Es gibt Kinder, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie ihre Eltern von Splittern getötet werden.
Jede Nacht steht Kateryna Schutaleva bis morgens 3 Uhr am Bahnhof von Ushgorod, an der slowakisch-ukrainischen Grenze. Überfüllte Züge mit Flüchtlingen aus der Ost- und Zentralukraine kommen hier an – und die Psychologin will helfen. Ihr eigenes Haus in Charkiw ist teilweise zerstört. Sie kann nicht mehr zurück. Trotzdem will sie nicht ins Ausland flüchten, sondern bleiben.
Schon vor dem Einmarsch der Russen war Kateryna Shutalova im Frontgebiet tätig. Mit ihrem Team therapierte sie seit Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine 2014 kriegstraumatisierte Kinder. Zweimal im Monat besuchte die Aktivistin Schulen, Kitas und einzelne Familien auch zu Hause.
Fahrzeug, Brennstoff und die Ausrüstung werden durch Spenden finanziert, die Behandlungen sind kostenlos. Ein Segen, da Fachärzte und Therapeuten weit weg sind oder eine Behandlung für die Leute in der Ostukraine unbezahlbar wäre.
Sich spüren lernen
Die 38-Jährige therapiert so jedes Jahr über 3000 Kinder und riskiert auf jeder Reise ihr Leben. Nach jeder Therapie berät Shutalova sowohl Lehrerinnen und Lehrer als auch die Eltern über den Umgang mit besonders traumatisierten Kindern.
«Meist spielen wir Spiele mit viel Körperkontakt, damit die Kinder wieder ihre Körper – also sich selbst – spüren», sagt Shutalova. Über den Krieg sprechen kann sie mit den Kindern nicht, dafür sei es viel zu früh. «Es gibt Kinder, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie ihre Eltern von Splittern getötet werden.»
Schüsse, Splitter, Stress
Die Kinder an der ostukrainischen Frontlinie können sich nicht an friedliche Zeiten erinnern. «Frieden als Konzept existiert in ihren Köpfen nicht», sagt Shutalova. Die Spuren von Splittern an ihren Schulen, Kitas und Häusern bestimmen seit 2014 ihr Weltbild.
Neben den Therapien veranstaltete Shutalova alle zwei Wochen Kinderfeste in Frontdörfern entlang der ganzen Kontaktlinie. Das waren die einzigen kulturellen Veranstaltungen, die einzigen positiven Erlebnisse und Anker für die Kids.
«Je stressiger die Lage ist, desto körperlich angespannter sind die Kinder», erzählt Kateryna Shutalova. Sobald eine Weile nicht mehr so laut geschossen werde, würden auch die Kinder wieder etwas «weicher und kontaktfreudiger».
«Das kann doch nicht sein»
Unter der Woche arbeitete Kateryna Shutalova bisher als Psychologin in der Grossstadt Charkiw oder sammelte Spendengelder. Selbst als der Krieg an der Front Ende Februar eskalierte, war sie mit ihrem Team entlang der Kontaktlinie unterwegs. Besonders heftig stand das Frontdorf Wrubiwka unter Beschuss. Shutalova rannte mit den Kindern in den Keller eines Jugendklubs. Die Kinder flehten die Helferin an, sie aus dem Kriegsgebiet wegzubringen. Zehn Kinder konnten sie evakuieren.
In Charkiw wähnte sich die Gruppe in Sicherheit – bis am 24. Februar Russland die Ukraine überfallen hat. Die Stadt geriet unter Raketenbeschuss und die Kinder aus Wrubiwka wurden aus dem Schlaf gerissen. «Halb im Schlaf habe ich Explosionen gehört. Und dachte, das kann doch nicht sein. Wir sind doch in Charkiw», sagt eines der Mädchen.
Flucht nach Westen
Das Team von Kateryna Shutalova beschloss, die Kinder und Jugendlichen weiter Richtung Westukraine zu evakuieren. Mit zehntausenden Menschen flohen sie auf Landstrassen Richtung Grenze zur EU – weg vor der russischen Armee. Shutalova versuchte gleichzeitig, den Eltern die Flucht aus Wrubiwka zu organisieren.
Völlig erschöpft kamen sie nach vier Tagen Fahrt und 1000 Kilometern im Karpatendorf Nishne Selishe an. Es war überfüllt von hunderten Flüchtlingen, viele Einheimische waren bereits ins Ausland geflohen. Wer geblieben ist, hat Wohnungen und Häuser zur Verfügung gestellt, gekocht und Lebensmittel gespendet – auch für die Kinder aus Wrubiwka.
Die Frontkinder und Jugendlichen wurden schliesslich in einem Flüchtlingsheim der ukrainischen NGO SargoRigo untergebracht. Die NGO hat seit Beginn ihrer Flucht aus der Ostukraine Geld für den Aufenthalt gesammelt.
«Das ist die Hölle»
«Die Kinder und Jugendlichen sind jetzt einigermassen in Ordnung – den Umständen entsprechend», sagt Kateryna Shutalova vier Tage nach der Ankunft. Die Kinder seien alle mehr oder weniger traumatisiert – wie ganz viele Menschen in der Ukraine.
Ganz bewusst sei ihnen die Situation noch nicht. Die Psychologin fragt sich, was passiert, wenn ein Verwandter der Kinder ums Leben kommen sollte. «Ich habe grosse Angst davor. Denn das, was in der Region grade passiert, ist die Hölle.»
Es ist fraglich, ob sie je wieder in ihr Dorf zurückkehren werden. «Es ist unklar, wie lange die Krise dauern wird. Wenn sie das begreifen, kommt die nächste Stufe der bewussten Wahrnehmung», sagt Shutalova. «Die Kinder werden heulen und verlangen, sofort nach Hause zu fahren.»
Erste Hilfe am Bahnhof
Die Psychologin hat eine Stunde Autofahrt entfernt eine Unterkunft gefunden, sie erachtet es weiterhin als ihre Pflicht, die Kinder regemässig zu besuchen und zu therapieren. Weg aus der Ukraine will sie nicht.
Nacht für Nacht bietet sie darum am Bahnhof Ushgorod erste psychologische Hilfe für Flüchtende an, die mit Zügen aus der Zentral- und Ostukraine ankommen. Tagsüber therapiert sie Kinder in mehreren Flüchtlingsheimen – alles ehrenamtlich.
Ausserdem berät Kateryna Menschen per Telefon und bietet Kurse für Psychologinnen und Psychologen in der Westukraine an. «Sie alle sind mit der Situation völlig überfordert und haben keine Erfahrung mit kriegstraumatisierten Menschen.»