Eva Illouz hat sich geirrt. Um nicht in eine Identitätskrise zu stürzten, schreibt sie sich ihre Desillusion von der Seele. «Der 8. Oktober» lautet der Titel des gerade erschienenen Essays. Und weil Illouz bekannt dafür ist, das Band zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Gefühlen zu erforschen, mangelt es darin nicht an Erklärungen für ihren Schockzustand.
Der 8. Oktober 2023 stellt sie vor ein «moralisches Rätsel». Einen Tag nach dem brutalen Massaker an israelischen Zivilisten durch die Hamas, wartet die Soziologin auf eine bestimmte Regung aus ihrem Lager. Doch das Mitgefühl – sonst eine Tugend der ihr so vertrauten globalen Linken – bleibt aus. Stattdessen werden die Gräueltaten der Hamas geleugnet und sogar freudig als «kolonialer Widerstand» gefeiert.
Nach dem Schock wird sie laut. Schliesslich ist sie jüdisch, lebt zeitweise in Jerusalem, ist mit vielen progressiven Linken befreundet und forscht über Emotionen, Moral und Ideologien. In Frankreich ist der Essay bereits vor einem Jahr erschienen. «Der 7. Oktober machte mich jüdischer», sagte sie damals in einem Interview.
Moralisierender Antisemitismus
Sie lernt in dieser Zeit eine neue Form «von sich tugendhaft gebenden Antisemitismus» kennen. Im moralischen Tunnelblick erscheine ein Teil der Linken der Hass auf Israel gerecht. Illouz will diesen Widerspruch besser verstehen.
Fündig wird sie in postmodernen Denkansätzen der französischen Theorie der 1960er- und 1970er-Jahre. Viele und vor allem berühmte linke Intellektuelle wie die Philosophin Judith Butler oder der Humanökologe Andraes Malm beziehen sich darauf. Die 100 Seiten bieten eine knappe Analyse linker Denkstrukturen. Radikale Zitate anderer Intellektueller verschleiern ein wenig komplexere Debatten, die durchaus im linken Milieu stattfinden.
Anhänger dieser Theorien kritisieren fundamental die europäische Kolonialgeschichte und globale Machtstrukturen. Demnach unterdrückten weisse Menschen bis heute Schwarze, Araber und Indigene. Illouz zeigt auf, dass das Prinzip «Machtsysteme aufdecken», ein neues Denken hervorbringe. Sie nennt es «umherwandernde Strukturen». Dadurch prägten nicht mehr Fakten die Diskussionen, sondern moralische Urteile.
Freund-Feind-Schema
Auf den Nahostkonflikt übertragen bedeute das, dass die jüdische Bevölkerung eine weisse Vorherrschaft verkörpere. Die palästinensische Bevölkerung sei demnach eine unterdrückte Minderheit, die befreit werden müsse. Gemäss dieser Machtlogik werden andere geschichtliche Verwicklungen überschrieben. Besonders dramatisch sei das bei der Schoa.
Nicht der Massenmord an den Juden sei von Bedeutung, sondern die Erzählung, dass jüdische Menschen nach dem Holocaust sozial aufgestiegen seien und eine dominante Macht mit dem Westen bildeten. Dem gegenüber würden Afroamerikaner oder arabisch-muslimische Migranten, wozu die Palästinenser gehören, immer noch als Opfer der Kolonialisierung diskriminiert werden.
Illouz vermutet, dass Teile der globalen Linken sich mit antisemitischem Denken trösten wollen. Einerseits seien so Erklärungen für die chaotische Welt schnell gefunden. Andererseits könnten sie die Gesellschaft weiterhin moralisch ordnen und die eigene Identität stärken. Die Soziologin ruft dazu auf, eigene Gewissheiten zu hinterfragen und sich der komplexen Welt zu stellen.