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Holocaust-Vergleich von Abbas Ist in Palästina Judenhass generell verbreitet?

Der Umgang von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas mit dem Begriff Holocaust schockiert. Islamwissenschafter Michael Kiefer erforscht die Verbreitung des Antisemitismus in arabischen Ländern und das Wissen der dortigen Menschen über die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg.

Michael Kiefer

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Der deutsche Islamwissenschafter und Publizist Michael Kiefer in Düsseldorf beschäftigt sich mit den Themenfeldern Migration und Rassismus, aber auch mit dem staatlichen Islamunterricht in Deutschland.

SRF News: War die Aussage von Abbas ein Ausrutscher oder Ausdruck einer antisemitischen Grundhaltung?

Michael Kiefer: Als Ausrutscher würde ich es nicht bezeichnen. Solche Äusserungen bei Politikern aus der arabischen Welt waren recht zahlreich in den letzten Jahrzehnten. In Syrien ist der Antisemitismus quasi Staatsdoktrin. Der ehemalige Verteidigungsminister verfasste viele antisemitische Schriften. Das ist also kein singuläres Phänomen.

Abbas hat sich entschuldigt, doch er stellte den Holocaust schon in seiner Doktorarbeit infrage. Ist er ein Antisemit?

Wenn er das getan hat, kann man ihn als Antisemiten bezeichnen. Daran besteht kein Zweifel.

Ist in Palästina Judenhass generell verbreitet?

Ja, Antisemitismus ist verbreitet. Man sieht es insbesondere daran, dass sich beispielsweise ein Verweis der Protokolle der Weisen von Zion – und damit der zentralen Schrift im modernen Antisemitismus – in der Charta der Hamas aus den 1980er-Jahren findet. Die Hamas geht also davon aus, dass Israel das Produkt einer weltweiten Verschwörung ist, die von jüdischen Menschen gemacht wurde. Das ist purer Antisemitismus. Diese Haltung findet sich auch in der Westbank und im Gazastreifen.

Abbas und Scholz.
Legende: Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas verglich am Dienstag im Kanzleramt in Berlin die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg mit den israelischen Angriffen auf palästinensische Dörfer. imago images / IPON

Warum lässt sich in der arabischen Welt und in den palästinensischen Gebieten eine antisemitische Haltung nicht von einer anti-israelischen trennen?

Das ist ungemein schwer zu differenzieren. Dazu muss man die Geschichte des modernen Antisemitismus im Nahen Osten mit seinen Verschwörungsnarrativen betrachten. Dieser tauchte im Ägypten der  1950er-Jahre auf. Unter dem damaligen Präsidenten Nasser wurden erste Texte übersetzt. Man brauchte das Material zur Illustration des Palästina-Konflikts. Zur Erklärung der schweren arabischen Niederlage 1948 kamen die Verschwörungsnarrative gerade recht. Man konnte sagen, man sei an einer grossen jüdischen Weltverschwörung gescheitert und nicht am kleinen Staat Israel. Seither ist Antisemitismus ein probates Erklärungsmuster für den Konflikt vor dem Haus.

Die Judenverfolgung der Nazis im Zweiten Weltkrieg erschüttert uns bis heute. Ist das bei den Palästinensern und Palästinenserinnen anders?

Ja. Im historischen Bewusstsein sind diese Fakten kaum vorhanden. In den dortigen Schulen wird der Holocaust nicht thematisiert. Ebenso wenig, was mit den Juden nach 1948 in den arabischen Ländern geschah. Denn auch dort gab es einen Exodus, und viele Juden mussten Ägypten, Marokko und viele andere Länder verlassen. Das ist den Menschen, die dort leben, heute kaum bekannt, weil es nicht thematisiert wird. Das erklärt diese falsche Geschichtsbetrachtung.

Ist es also vor allem damit erklärbar, dass es einen Staat Israel gibt und die Palästinenser ihr Gebiet räumen mussten?

Es ist weniger das, was faktisch geschehen ist, sondern vielmehr die Interpretation dessen und die Aufladung mit antisemitischen Narrativen, die den Zustand erklären. Fakten, die nicht ins Konzept passen, werden ausgelassen. So ist der Antisemitismus in einigen arabischen Ländern eine bestimmte Form von Geschichtspolitik, die Verhältnisse erklärt und von anderen Dingen ablenkt.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit, 19.08.2022, 18:00 Uhr ; 

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