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Mediensprache und Krieg Sind das noch «mutmassliche» Kriegsverbrechen?

Angesichts russischer Gräueltaten im Ukraine-Krieg streiten sich deutsche Korrespondenten um den Begriff «mutmasslich». Während private Medienhäuser wie Spiegel, Bild oder CNN von Kriegsverbrechen sprechen, ist bei ARD und ZDF zum Teil immer noch von «mutmasslichen» Kriegsverbrechen die Rede. Warum diese Zurückhaltung? Fredy Gsteiger, der stellvertretende Chefredaktor bei SRF, über die Grenzen eines Begriffs.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

SRF: Angesichts der schlimmen Bilder und Meldungen von Gräueltaten, die uns aus der Ukraine erreichen: Ist es da noch angebracht, von «mutmasslichen» Kriegsverbrechen zu sprechen?

Fredy Gsteiger: «Mutmasslich» signalisiert bereits eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass etwas tatsächlich passiert ist, und zwar mehr als Begriffe wie «vielleicht» oder «möglicherweise». Synonyme für «mutmasslich» sind: «wahrscheinlich» oder «es gibt einen begründeten Verdacht».

Sobald umfangreiche Angriffe auf Zivilisten stattfinden, sind das Kriegsverbrechen. Und genau das passiert in der Ukraine.

Im Zusammenhang mit den Kriegsverbrechen in der Ukraine ist der Begriff zu vage. Er lässt zu sehr offen, ob etwas Sache ist oder nicht. Denn es gibt letztlich keine Zweifel, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen wurden. Und der Begriff «Kriegsverbrechen» ist im humanitären Völkerrecht klar definiert.

Sobald umfangreiche Angriffe auf Zivilisten stattfinden, sind das Kriegsverbrechen. Genau das passiert in der Ukraine. Es gibt zahlreiche seriöse Quellen, die das dokumentieren. Selbst die Russen sprechen gelegentlich von Kriegsverbrechen, schieben das allerdings den Ukrainern in die Schuhe.

Das Wort «mutmasslich» wird oft im Zusammenhang mit laufenden Strafverfahren verwendet, wo noch keine Verurteilung des Täters erfolgt ist. Warum ist das in einem Krieg anders?

Nach den juristischen Begrifflichkeiten wäre selbst Adolf Hitler kein Kriegsverbrecher, denn er wurde nie verurteilt. Das gilt auch für sehr viele Kriegsverbrecher aus anderen Staaten.

Ich vermute, dass es einfach das Bestreben ist, besonders vorsichtig zu sein. Gerade bei Medien, die den Service Public leisten sollen.

Das zeigt, dass diese legalistische Argumentation und Wortwahl im Fall eines Krieges – wie jenem in der Ukraine – nicht wirklich tauglich ist. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand.

Es ist schwer zu vermitteln, dass man entgegen aller Evidenz erst dann von Kriegsverbrechen sprechen darf, wenn irgendwann ein Kriegsverbrechertribunal geurteilt hat.

Wie erklärt sich der Umstand, dass die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland zum Teil immer noch den Begriff «mutmasslich» gebrauchen?

Ich vermute, dass es einfach das Bestreben ist, besonders vorsichtig zu sein. Gerade bei Medien, die den Service Public leisten sollen. Was auch ein Widerspruch ist, denn gleichzeitig berichten die eigenen Korrespondenten von ARD und ZDF aus der Region, wo diese Verbrechen begangen werden. Sie sprechen mit Augenzeugen und mit humanitären Helferinnen und Helfern.

SRF verwendet keine Formulierungen, die faktisch falsch sind oder die Wahrheit vernebeln.

Grundsätzlich gilt, dass viele Informationen aus der Ukraine nicht immer verlässlich sind. Aber sie fliessen in die Berichterstattung mit ein. Es gibt mittlerweile reichlich Belege dafür, dass Kriegsverbrechen stattgefunden haben.

Diese lassen sich durch viele Videos, Tonaufnahmen und Zeugenaussagen stützen. Und vieles davon konnte man auch verifizieren. Es sind seriöse Medien, Menschenrechtsorganisationen, demokratisch gewählte Regierungen, die EU oder die UNO, die den Begriff Kriegsverbrechen durchaus verwenden.

Wie sieht es bei SRF aus? Wie lautet bei uns der Wortlaut?

Wir sind generell zurückhaltend damit, bestimmte Formulierungen für alle Journalistinnen und Journalisten verpflichtend vorzuschreiben. Das erweckt den Verdacht, wir würden den Diskurs prägen wollen. Oder wir würden Politik machen wollen. Oft sind mehrere Begriffe tauglich und bilden die Realität korrekt ab.

Wenn es begründete Zweifel gibt, muss man diese auch anmerken und transparent klarmachen. Klar ist: Wir verwenden keine Formulierungen, die faktisch falsch sind oder die Wahrheit vernebeln.

Das Gespräch führte Igor Basic.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 08.04.2022, 17:10 Uhr ; 

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