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Mental Health Activism Dieser Mann gibt seiner Angst einen Namen – und ein Gesicht

Viele Betroffene schämen sich für psychische Krankheiten. Der Mental Health-Aktivist Martin Fankhauser zeigt: Es geht auch anders.

Wer im Internet nach #ganzabNORMAL sucht, findet ungewöhnliche Porträts von Menschen. Ungewöhnlich sind sie vor allem deswegen, weil diese Menschen ihre Diagnosen von psychischen Krankheiten öffentlich machen: etwa Borderline, eine bipolare Störung, passive Suizidalität oder Zwangsstörung.

Hinter dem Projekt steckt der Mental Health-Aktivist Martin Fankhauser. Er ist Teil einer jüngeren Bewegung, die sich für die Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten einsetzt. Bis Martin Fankhauser ein Aktivist für psychische Gesundheit wurde, musste er allerdings einen steinigen Weg zurücklegen.

Gefangen im Gedankenstrudel

«Plötzlich konnte ich nicht mehr schlafen, lag morgens um 3 Uhr ständig wach und malte mir die schlimmsten Dinge aus», erzählt Fankhauser. Er habe zwar vermutet, dass seine Angst psychisch bedingt sei, aber er sei trotzdem zuerst zum Hausarzt gegangen. Der schickte ihn weiter zur Psychotherapeutin.

ein Mann mit olivenem T-Shirt und schwarzer Brille schaut leicht lächelnd in die Kamera, dunkelgraue, kurze Haare.
Legende: Martin Fankhauser engagiert sich auf Social Media, mit öffentlichen Veranstaltungen und unter anderem im Netzwerk Madnesst für psychische Gesundheit. Martin Fankhauser

Die Psychotherapeutin stellt fest: Martin Fankhauser hat eine generalisierte Angststörung. In seinem Fall heisst dies, dass er wegen einer Sache, die andere als unwichtig empfinden würden, in einen negativen Gedankenstrudel geraten kann.

«Wenn ich auf der Arbeit einen kleinen Fehler machte, war ich drei Tage lang überzeugt, dass ich jetzt die Kündigung bekomme, in Geldprobleme gerate und auf der Strasse lande.» Rückblickend sei so ein Szenario komplett unrealistisch. Aber im Moment selbst habe er nicht mehr sachlich denken können.

Strategien zur Verdrängung

Obwohl Fankhauser seine psychischen Probleme schon seit der Jugend mit sich herumtrug, erhielt er die Diagnose erst mit 37 Jahren. Späte Diagnosen gebe es häufig, sagt Yvik Adler, Co-Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Psychologinnen und Psychologen und praktizierende Psychotherapeutin. Oft haben Betroffene Strategien, dank denen sie ihre psychischen Probleme unter dem Deckel halten können.

Warum sollte ausgerechnet das Gehirn weniger von Krankheit und Störungen betroffen sein als andere Körperteile?
Autor: Yvik Adler Psychotherapeutin

Belastende Situationen oder kritische Lebensphasen wie beispielsweise eine Pensionierung können dazu führen, dass die psychischen Krankheiten sich nicht mehr unterdrücken lassen. Bei Martin Fankhauser war der Auslöser der Stress in seinem damaligen Job.

Die Diagnose brachte auch Erleichterung

Im Verlauf seiner psychotherapeutischen Behandlung wird Fankhauser zudem eine «selbstunsichere Persönlichkeitsstörung» attestiert. «Dabei leiden Personen seit Jugendalter unter andauernder Besorgnis, sozial unbeholfen und minderwertig zu sein. Und sie haben grosse Sorge, in sozialen Situationen kritisiert zu werden», erklärt Yvik Adler.

Im ersten Moment sei er erschrocken, als er erkannt habe, dass er wirklich krank sei, erzählt Fankhauser. Aber: die Diagnose sei auch eine Erleichterung gewesen. «Vorher hatte ich immer das Gefühl, ich sei selbst schuld. Jetzt war klar: Ich habe eine Krankheit und es gibt viele andere, die sich die gleichen Gedanken machen.»

Auch das Gehirn wird einmal krank

Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium erkrankt jede zweite Person einmal in ihrem Leben psychisch. Die Zahl erstaunt Psychotherapeutin Yvik Adler nicht: «Warum sollte ausgerechnet das Gehirn, unser komplexestes Organ, weniger von Krankheit und Störungen betroffen sein, als andere Körperteile?»

Über den Grund, warum so viele Menschen psychisch erkranken, könne man nur Vermutungen anstellen, sagt Adler. Zum einen spielt der Leistungsdruck in der Arbeitswelt eine Rolle. Hinzu kommt soziale Einsamkeit, weil sich mehr Kontakte in den digitalen Raum verlagern. Ausserdem häufen sich die Krisen: Klima, Pandemie, Krieg.

Immer noch tabu

Die Zahl von Menschen, die sich für eine Psychotherapie anmelden, sei in den letzten Jahren gestiegen, sagt Adler. «Bei Kindern und Jugendlichen gibt es deutlich mehr Erkrankungen. Bei der älteren Bevölkerung ist mehr Bewusstsein da. Das führt dazu, dass sich mehr Leute Hilfe suchen.»

Aber auch wenn Menschen heute sensibilisierter sind in Bezug auf psychische Krankheiten, so ist das Stigma, das ihnen anhaftet, nach wie vor gross. «Weil psychische Krankheiten schwer verständlich sind, empfinden wir sie als komisch und bizarr und das löst bei vielen einen Abstossungsmechanismus aus», sagt Yvik Adler.

Hilfe: Erste Anlaufstellen im Überblick

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Ein Name für die Angst

Das dürfte mit ein Grund sein, warum nur 6 Prozent der Bevölkerung sich auch wirklich Hilfe suchen. Insbesondere Männer und Menschen in der zweiten Lebenshälfte täten sich schwer damit.

Dagegen würden sich Menschen unter 30 Jahren sehr für psychische Belangen interessieren, sagt die Fachfrau. «Sie haben erkannt, dass es zu einer Steigerung der Lebensqualität kommt, wenn man psychische Phänomene besser kennt, einordnen und damit auch bewältigen kann.»

Man merkt, dass die Leute es satthaben, sich zu verstecken.
Autor: Martin Fankhauser Mental Health-Aktivist

Auch das Beispiel Martin Fankhauser zeigt: Wer sich seiner psychischen Probleme annimmt, kann überhaupt erst einen Umgang damit finden. Fankhauser hat seiner Angst und Unsicherheit einen Namen gegeben: «Meine Angst heisst Horst.» So könne er Distanz gewinnen. «Ich denke dann, das ist jetzt wieder der Horst. Der ist zwar ein Teil von mir, macht mich aber nicht aus.»

Die Karten auf den Tisch gelegt

Ausserdem hat Fankhauser festgestellt, dass der Alltag einfacher wird, wenn sein Umfeld Bescheid darüber weiss, warum er an bestimmten Tagen Dinge weniger gut kann als an anderen.

Bei seinem neuen Arbeitgeber – Fankhauser arbeitet im Personalwesen – habe er die Karten von Anfang an auf den Tisch gelegt. Sein Chef sehe in Fankhausers Krankheit keinen Makel, sondern eher einen Vorteil. «Wenn jemand ins HR kommt mit ähnlichen Problemen, dann habe ich Tipps, welche Hilfswerke und Hotlines helfen können.»

Martin Fankhauser hat selbst erlebt, welche Erleichterung ein offener Umgang mit psychischen Krankheiten bringen kann. Er wünscht sich diesen offenen Umgang von der ganzen Gesellschaft und will auch aktiv zur Entstigmatisierung beitragen.

Mental Health Aktivismus

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Pro Mente Sana setzt sich seit den 1960er-Jahren für die berufliche und soziale Integration psychisch kranker Menschen ein.

Der Mental Health Aktivismus, wie ihn zum Beispiel der Verein Madnesst betreibt, ist hingegen ein neueres Phänomen. Der Unterschied liegt darin, dass Betroffene selbst Aufklärungsarbeit leisten und den Dialog mit der Gesellschaft suchen.

Entstanden ist die Mental Health Bewegung in Toronto, wo 1993 zum ersten Mal eine Mad Pride durchgeführt wurde – ein öffentlicher Anlass für Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und Sympathisanten. 2019 fand in Genf die erste Schweizer Ausgabe einer Mad Pride statt, letztes Jahr war sie in Bern. Die nächste Ausgabe wird am 7. Oktober 2023 in Lausanne durchgeführt.

Das tut er, indem er in Schulen und auf Podien über seinen Horst berichtet. Aus dem gleichen Grund rief er auch das Fotoprojekt #ganzabNORMAL ins Leben. Anfänglich habe er Leute angefragt, ob sie mitmachen wollten. Als die ersten Bilder dann erschienen seien, hätten sich viele von selbst bei ihm gemeldet. «Man merkt, dass die Leute es satthaben, sich zu verstecken.»

Nicht nur meine Diagnose

Auch wenn Fankhauser selbst gute Erfahrungen gemacht hat mit seinem Gang an die Öffentlichkeit, so betont er doch, dass sich sein Weg nicht für alle eigne. «Psychischen Probleme haftet nach wie vor ein Stigma an und das kann in gewissen Lebenssituationen problematisch werden», sagt auch Yvik Adler.

Aber je mehr Menschen an die Öffentlichkeit gingen, desto «normaler» würden psychische Krankheiten. Das ist auch der Kerngedanke des Mental Health Aktivismus, wie in Martin Fankhauser betreibt. Anderen Betroffenen und der Gesellschaft signalisieren: «Ich bin nicht nur meine Diagnose, sondern ein Mensch, der etwas zu bieten und einen Platz hat in der Gesellschaft.»

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 28.03.2023, 09:03 Uhr.

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