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Stigma: Psychisch krank Eine schmerzende Seele ist auf dem Arbeitsmarkt tabu

Psychische Krankheiten betreffen in der Schweiz fast jede fünfte Person und werden trotzdem oft verschwiegen. Der Leidensdruck ist hoch, die Jobchancen erschwert. Zwei Betroffene berichten über ihr Leben mit dem Stigma.

Jlona Dreyer fährt Achterbahn durch den Alltag. Manchmal überschlagen sich ihre Gefühle stündlich. Eine SMS und sie freut sich wie ein Kind, ein schief gezogener Lidstrich und sie explodiert. «Bei mir ist es so», erklärt Dreyer, «dass ich den körperlichen Schmerz viel besser aushalten kann als den seelischen.»

Sie ist emotional instabil. Wenn die Unruhe sie überwältigt, schlägt sie den Kopf gegen die Wand. Früher schnitt sie sich. Dreyer ist 30 und hat eine sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung. Vor zwei Jahren hat sie sich getraut, «in die Psychi» zu gehen.

Was ist das Borderline-Syndrom?

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Menschen mit einer sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung sind impulsiv und emotional instabil. Ihre Gefühle können rasend schnell zwischen innerer Leere und extremer Anspannung wechseln.

Betroffene reagieren unterschiedlich auf ihre quälenden intensiven Gefühle, zum Beispiel indem sie sich selbst verletzen. Auch Suizidgedanken können Borderline-Erkrankte plagen.

Heute kühlt Jlona Dreyer das innere Brodeln mit einer kalten Dusche, verletzt sich nur noch selten selbst. Weil sie es so will: «Ich will ein normales Leben führen.» Mitleid will Dreyer nicht. Sie spricht offen über ihre Krankheit. «Nur weil ich anders bin, heisst es ja nicht, dass ich gestört bin.»

Seelische Leiden sind tabu

Niemand darf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen diskriminieren oder benachteiligen. Das stellt die Bundesverfassung der Schweiz klar.

Doch obwohl unsere Gesellschaft heute viel mehr über psychische Krankheiten weiss: Die Stigmatisierung und damit Ausgrenzung von psychisch Kranken hat Studien des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zufolge nicht abgenommen.

Illustration eines Mannes, der mit den Händen gestikuliert.
Legende: «Psychisch Kranke haben sehr häufig ein Image-Problem», sagt Rudolf Gafner, der bipolar ist. SRF / Cecilia Bozzoli

«Psychisch Kranke haben sehr häufig ein Image-Problem», sagt Rudolf Gafner. Er hat das Stigma selbst erlebt, nachdem er sich öffentlich als manisch-depressiv, also bipolar outete.

Seit Jahren sucht er einen Job, für einen 55-Jährigen sowieso kein einfaches Unterfangen. Doch Gafner sagt bestimmt: «Das Bekenntnis zur Bipolarität hat mich auf dem Arbeitsmarkt suizidiert.»

Trotz Stigma weit verbreitet

Dabei trifft es irgendwann im Leben fast jede Zweite und jeden Zweiten, heisst es in der Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums : Eine psychische Krankheit, die behandelt werden müsste. «Das können auch Krisen sein, die wieder weggehen», präzisiert Erich Seifritz, ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich.

Sein Eindruck ist, «dass leichtere psychische Krankheiten zugenommen haben: milde Formen von Burnout, Depressionen, vielleicht Essstörungen». Aber belastbare Zahlen dazu, ob psychische Krankheiten in der heutigen Gesellschaft häufiger sind als zum Beispiel vor 100 Jahren, gibt es keine.

Das liege auch daran, dass viele ihr seelisches Leiden verstecken, weil sie sich schämen, sagt Psychiatrieprofessor Seifritz. Oder weil sie es selbst nicht wahrhaben wollen.

Psychische Krankheiten sind weit verbreitet

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In Europa ist mehr als ein Drittel der Menschen psychisch krank. Das sind etwa 164,7 Millionen Menschen, wie eine Übersichtsstudie - bezogen auf das Jahr 2010 - ergab. Psychische Störungen können in jeder Lebensphase auftreten und äussern sich ganz unterschiedlich. Dazu gehören:

  • Angststörungen wie Panikattacken oder Phobien
  • Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie
  • Suchtstörungen wie Alkohol, illegale Drogen oder Spielsucht
  • Persönlichkeitsstörungen wie das Borderline-Syndrom
  • Bipolare Störungen
  • Depressionen
  • Psychosen wie Wahn oder Halluzinationen

Heimlich krank

Richtig eingeschränkt, so schildert es Rudolf Gafner, hat ihn seine bipolare Störung erst in der zweiten Lebenshälfte. Als er so alt war wie Jlona Dreyer, trieb ihn seine Krankheit an. Er galt als der Unerschrockene, berichtete als Journalist für die Tageszeitung «Der Bund» aus Krisengebieten, Nordirland, Afghanistan, dem Libanon.

«Ich habe gemerkt, ich arbeite wie ein Vergifteter», erinnert sich Gafner, «ich verschmelze mit dem Bildschirm, rauche viel zu viel und am Schluss bin ich komplett erschöpft.»

Wie äussert sich eine bipolare Störung?

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Manisch-Depressive leben mit extremen Emotionen. Manische Episoden mit gehobener Stimmung und überbordender Energie bis hin zum Grössenwahn wechseln ab mit depressiven Phasen tiefster Trauer, Freudlosigkeit und sogar Suizidalität.

Seine Kolleginnen und Kollegen sprachen über seinen Tunnelblick. Dass Gafner gerade eine manische Episode durchmachte, konnten sie nicht erkennen. Nach über 20 Jahren stieg Gafner aus dem Journalismus aus. Er konnte nicht mehr. Heute bezieht er eine Invalidenrente.

Auch für seelische Leiden gibt es Medizin

Seine Diagnose kannte Gafner erst, als das Leiden ihn zu zerfressen begann. Bipolare Störungen sind im frühen Stadium schwer zu erkennen. 13 Jahre, so erzählt es Gafner, habe er zum Teil Medikamente bekommen, «die nicht nur nichts genützt haben, sondern die Symptomatik verschlimmert haben».

Mit der passenden Medikation ging es schnell besser: Nach drei Monaten stabilisierte sich sein Zustand. Heute hat er 30 Kilogramm mehr auf den Hüften. Eine Nebenwirkung der Medikamente. «Aber die Vorteile überwiegen», sagt Gafner: «Ich weiss nicht, ob ich noch leben würde ohne Medikamente.»

Erich Seifritz, ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, ist optimistisch, dass psychische Erkrankungen genauso behandelt werden können wie körperliche Gebrechen: «Die gesamte Wirksamkeit von derzeit zur Verfügung stehenden psychischen Behandlungsmöglichkeiten kann sich durchaus vergleichen mit dem Behandlungserfolg der somatischen Medizin.»

Rudolf Gafner hat die Gesellschaft überschätzt

Rudolf Gafner will sich nützlich machen. In guten Monaten hat er schon 48 Bewerbungen geschrieben, er beschreibt sich als «vorbildlichen Arbeitslosen». Nur: Die Arbeitgeber fürchten das Risiko, ihn einzustellen.

Die meisten Unternehmen schätzen gesunde Bewerberinnen als zuverlässiger ein und würden sie eher anstellen als Bewerber mit chronischen Krankheiten oder psychischen Störungen. Das ergab eine Studie aus dem Jahr 2007 im Kanton Basel-Land.

Eingeladen bei einer kirchlichen Feier zum UN-Menschenrechtstag, sprach Gafner einmal auf der Bühne vor Politikerinnen und Journalisten über seine Krankheit. Er hat daran geglaubt, dass man heute über alles reden kann. Gafner fühlte sich nicht einmal besonders mutig vor dem Auftritt.

Dass er danach keine Anstellung mehr finden würde, war ihm nicht bewusst. Sein Coming-out sollte ihm einen Stempel aufdrücken: Wer seinen Namen googlet, findet seine Krankheit.

Jlona Dreyer kündigte – der Chef schien froh

Eine schmerzende Seele wird anders bewertet als ein kaputtes Knie. Die Arbeitslosenquote liegt bei Menschen mit psychischen Störungen fast drei Mal über dem Schweizer Durchschnitt, heisst es in einem Bericht, veröffentlicht von der OECD.

Das liegt auch daran, dass Betroffene wegen ihres Leidens vergleichsweise häufiger und auch länger bei der Arbeit fehlen. Und wer für längere Zeit aussetzt, kehrt oft nicht an den Arbeitsplatz zurück.

Illustration einer jungen Frau mit Pony und Tätowierungen.
Legende: «Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Leute nicht abstempelt», sagt Jlona Dreyer. SRF / Cecilia Bozzoli

Auch für Jlona Dreyer war das nicht einfach. Als sie nach drei Monaten Klinik zurück zur Arbeit kam, merkte sie, dass ihr Chef sie anders behandelte. Neun Jahre hat sie dort gearbeitet – kaum war ihre Borderline-Erkrankung bekannt, traute man ihr weniger zu. Sie kündigte: «Ich hatte das Gefühl, sie sind froh, dass ich den Schritt mache.»

Wenig Wissen bei Arbeitgebern

Die Verunsicherung der Arbeitgeber gegenüber psychisch Kranken erklärt sich Psychiater Seifritz so: «Sie wissen nicht, was das auf lange Sicht heisst. Ist die Person weniger stressresistent? Kommt die Krankheit wieder, wenn sie abgeheilt ist?»

Eigentlich sind Arbeitgeber per Gesetz dazu verpflichtet, die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu schützen, auch die seelische. Eine hohe Arbeitsbelastung wirkt sich etwa negativ auf die Psyche aus.

Oft wissen Arbeitgeberinnen aber gar nicht, woran sie psychische Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz erkennen können – das Arbeitsgesetz hilft ihnen da nicht. Und das Stigma macht es noch schwieriger.

Depressionen: weit verbreitet und gut versteckt

Ein Beispiel sind Depressionen. Laut Bundesamt für Statistik sind sie das psychische Leiden, das am häufigsten auftritt : 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben schon Depressionen erlebt. Eine von 20 Personen fühlt sich meistens oder sogar immer deprimiert.

Obwohl es wirksame Behandlungen gibt, zögern viele damit, sich Hilfe zu suchen: «Sie verheimlichen das, weil damit eine Scham verbunden ist», erklärt Psychiatrieprofessor Seifritz: «Das Stigma der Gesellschaft führt dazu, dass sich die betroffene Person auch selbst stigmatisiert.»

Wie zeigt sich eine Depression?

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Betroffene fühlen sich oft so traurig, dass ihr Alltag dadurch eingeschränkt ist. Stark depressive Menschen sind verzweifelt, verlieren den Selbstwert, fühlen sich nutzlos und leiden häufig unter fehlendem Antrieb, Schlafstörungen oder Appetitverlust.

Auch Dinge, die sie vor der Erkrankung geliebt haben, erfreuen sie oft nicht mehr. Depressionen können länger anhalten und sie kehren häufig wieder. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

Gegen das Verstecken psychischer Probleme malt Jlona Dreyer an. Ihre Bilder veröffentlicht sie unter dem Namen «Cat Velvet» auf Instagram , sie teilt intime Gedanken mit fremden Menschen.

Das hilft ihr beim Verarbeiten. Anderen Menschen mit psychischen Problemen gibt sie das Gefühl, nicht allein zu sein.

Instagram-Kunst von Jlona Dreyer

Ehrlichkeit hilft dem Umfeld

Alleine fühlt sich Dreyer nur selten. Von ihrer Familie, ihrem Freund erfährt sie Verständnis. Doch sie musste sich an eine gewisse Einsamkeit gewöhnen: «Entweder kommen die Leute nicht mit dir klar, oder du kommst mit ihnen nicht klar.»

Immer wieder habe sie in der Vergangenheit «Menschen aussortiert». Heute zieht sie sich oft in ihr Zimmer zurück: Dreyer will ihre Ausbrüche nicht an ihrem Umfeld auslassen.

Für ihren Freund Luca ist das oft nicht einfach. Er liebt an Jlona, dass sie so ausdrucksstark ist, sagt aber auch: «Es gibt Situationen, da würde ich gern mit dem Kopf durch alle Wände dieser Wohnung.»

Sie haben in ihrer Beziehung gelernt, jeden Konflikt zusammen zu reflektieren. Diese Offenheit stärkt ihre Beziehung.

Gegen das Stigma müssen alle umdenken

Offenheit ist es auch, was sich Rudolf Gafner von Menschen mit psychischen Problemen wünscht: «Man muss den Mut haben, aus dem Dunkeln zu treten und ins Licht zu kommen», sagt er. «Wenn wir es nicht machen, macht es niemand für uns.» Nur so würden psychisch Kranke enttabuisiert.

Jlona Dreyer sieht auch die Gesellschaft in der Pflicht, wünscht sich ein Umdenken, eine Gesellschaft, die psychisch Kranke endlich akzeptiert: «Dass man die Leute nicht abstempelt. Die haben genug eigene Probleme, auch ohne noch von der Gesellschaft verurteilt zu werden, für etwas, wofür sie nichts können.»

Laut Schweizerischem Gesundheitsobservatorium ist es keine kleine Minderheit , die Achterbahn im Alltag fährt, die mit psychischen Problemen lebt. Es geht um fast jede fünfte Schweizerin, jeden fünften Schweizer.

Hier finden Sie Hilfe

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Wenn Sie selbst eine Krise durchmachen oder jemand in Ihrem Umfeld psychische Probleme hat, zögern Sie nicht, sich Hilfe zu holen.

SRF 1, Einstein, 07.05.2020, 21.05 Uhr

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