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Muttersein – Natürlich kompliziert!
Aus Sternstunde Philosophie vom 14.05.2023.
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Mutter-Tochter-Beziehung Ablösung von der Mutter: Wie wir es schaffen, endlich loszulassen

In der Gegenwart unserer Mutter fühlen wir uns oft wie ein kleines Kind. Sich von ihr zu lösen, ist ein lebenslanger Prozess. Einer, der sich für alle Beziehungen lohnt, sagt die Psychologin Sandra Konrad.

«Können Sie einen dieser Sätze mit ‹Ja› beantworten?», fragt die Psychologin Sandra Konrad am Telefon. «Ich möchte, dass meine Mutter alles gut findet, was ich mache.» «Ich kann meiner Mutter keine Grenzen setzen.» Oder: «In Gegenwart meiner Mutter fühle ich mich wie ein kleines Kind.» Schon ein Ja sei ein Hinweis, dass wir noch mit ihr verstrickt sind.

Sandra Konrad

Sandra Konrad

Einzel-, Paar- und Familientherapeutin

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Sandra Konrad ist promovierte Psychologin, Sachbuchautorin und systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in Hamburg. In ihrer Doktorarbeit befasste sie sich mit der Weitergabe von Mustern und Traumata über mehrere Generationen. Kürzlich erschien ihr neustes Buch «Nicht ohne meine Eltern: Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern».

Gerade der letzte Satz dürfte vielen bekannt vorkommen. Die Mutter steht vor einem, macht nur eine kleine, kritische Bemerkung zur Kleidung oder Ferienplanung – und man verliert sofort die Fassung. Eigentlich lächerlich, trotzdem fühlt man sich hilflos.

Emotional wie ein Kind

Als Kind sind wir von der Zustimmung der Eltern abhängig. Wir tun alles, um ihnen zu gefallen und die Beziehung sicher zu halten, erklärt Sandra Konrad.

«Ist der Ablösungsprozess irgendwo blockiert, reagieren wir auch als Erwachsene im Nullkommanichts aus unserem Kind-Ich: verängstigt, ohnmächtig, wütend, verletzt.» Nicht nur vor der Mutter – oft auch in anderen Beziehungen.

Sofort bin ich die kleine Sophia und werde mega laut.
Autor: Sophia (Namen geändert)

Das kennt Sophia (34, Name geändert) gut. Fühlt sie sich von ihrer Mutter oder einer anderen Person nicht ernstgenommen, geht das Gefühlskarussell los. «Sofort bin ich die kleine Sophia und werde mega laut.» Das bekomme oft ihr Partner ab. Heute verstehe sie ihre Reaktion und könne sie schnell bereinigen. Sie sei mit der Mutter versöhnt. Doch bis dahin war es ein langer Weg.

Die Mutter ist Mythos und Identifikationsfigur

Ablösungsprobleme können natürlich auch mit dem Vater auftreten, sagt Konrad. Vor allem, wenn dieser die primäre Bindungsperson ist. Unsere erste Bindung haben wir aber in jedem Fall mit der Mutter. Während wir uns in ihrem Bauch entwickeln, übertragen sich ihre Glückshormone, aber auch ihr Stress unmittelbar auf uns. Sie ist unsere erste Identifikationsfigur.

Dazu komme der äussere Druck: der Muttermythos der bedingungslosen Liebe. Wird dieser enttäuscht, treten häufig Schamgefühle und Konflikte auf. Doch wer wünscht sich diese Nähe eigentlich? Die Gesellschaft? Die Mutter? Die Tochter?

Frauen sollten ihre Mutterrolle lieber als etwas sehen, das gar nicht perfekt sein kann, so Konrad weiter. «Kinder brauchen nicht ‹perfekt›. Kinder brauchen gut genug. Das heisst: Ich mache als Mutter Fehler und übernehme Verantwortung dafür.»

Aufwachsen in ständiger Anspannung

Denkt Sophia an ihre Kindheit, fallen ihr vor allem schwierige Momente ein. Das Verhältnis zur Mutter war sehr distanziert. Sophia war ein Papakind, auch wenn dieser während ihrer gesamten Kindheit schwer krank war. Er starb, als sie 18 Jahre alt war.

Über die Krankheit, den Tod wurde zuhause nicht gesprochen. Es wurde geschwiegen und vor allem gestritten.

Ich habe mir nie mehr Nähe von meiner Mutter gewünscht. Ich wollte einfach nur ernst genommen werden.
Autor: Sophia (Namen geändert)

«Bald kippe ich um.» Oder: «Seid still, sonst erstickt euer Vater!» Sätze wie diese hörten Sophia und ihr Bruder oft. Die Mutter, die den Vater in Vollzeit pflegte, war häufig überfordert und machte ihnen Vorwürfe.

Sophia sei dadurch ihre ganze Kindheit über angespannt gewesen, sagt sie. Sie musste sich anpassen, habe oft geweint und Schuldgefühle gehabt.

Verhalten der Mutter prägt eigene Erwartungen

Unser Bindungsverhalten wird hauptsächlich von Mutter zu Kind weitergegeben, so Sandra Konrad. Wer zum Beispiel als Kind wenig Liebe erfahren hat, gibt sich später oft mit wenig zufrieden – oder erwartet von anderen, die gute Mutter zu sein, die man nie hatte.

Eine Hand am Ultraschallgerät fährt den Bauch einer schwangeren Frau ab, die auf einen Monitor schaut.
Legende: Die Bindung zur Mutter besteht von Anfang an. Im Mutterleib übertragen sich ihre Gefühle auf uns. Imago Images/Wavebreak Media Ltd

Verhielt sich die Mutter unsicher und ambivalent, könne auch die Tochter in Beziehungen ambivalente Gefühle und Glaubenssätze entwickeln, wie: «Ich traue dir nicht, also klammere ich.»

Verschiedene Arten von Müttern

«Grundsätzlich gibt es Mütter, die aus Sicht des Kindes zu viel verlangen oder solche, die zu wenig geben», sagt Sandra Konrad. Narzisstische Mütter etwa verstehen ihr Kind als Erweiterung ihrer selbst: Sie sind leicht gekränkt und alles dreht sich um sie. Es gibt aber auch überfürsorgliche, übergriffige Mütter, die ihre Töchter symbiotisch an sich binden und damit deren Autonomie und Ablösung stören.

Wenn eine Mutter ihr Kind vernachlässigt, hatte sie selbst oft eine Kindheit, in der sie sich nicht sicher und geborgen fühlte.
Autor: Sandra Konrad Einzel-, Paar- und Familientherapeutin

Wieder andere Mütter bringen ihre Kinder aus eigener Bedürftigkeit in eine sogenannte «Rollenumkehr», in der das Kind für die Mutter sorgen muss. Das komme oft vor. Solche Kinder lernen, andere Bedürfnisse über die eigenen zu stellen. Schliesslich gibt es noch Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen oder missbrauchen.

Neue Generation wiederholt Muster

Es sei ganz wichtig zu verstehen, dass die verschiedenen Verhaltensweisen oft transgenerationale Wiederholungen der eigenen Erlebnisse seien, sagt Konrad. «Wenn eine Mutter ihr Kind vernachlässigt, hatte sie selbst oft eine Kindheit, in der sie sich nicht sicher und geborgen fühlte.» Das sei keine Entschuldigung, aber notwendiges Wissen, um frühzeitig Hilfe zu holen und um beim eigenen Kind anders zu handeln.

Porträtbild von Frau mit braunen Haaren und heller Bluse vor unscharfem, bläulichem Hintergrund
Legende: Die Psychologin Sandra Konrad hilft ihren Patientinnen und Patienten, einen «erwachseneren» Blick auf die eigene Mutter zu entwickeln. Kirsten Nijhof

Kinder wiederholen die Bindungsmuster der Eltern. Manchmal kehren sie diese auch ins Gegenteil um. Ablösung bedeute aber weder «alles zu machen wie die Eltern und diese zu idealisieren, noch 100 Prozent alles anders machen zu wollen», sagt Konrad.

Oder wie es Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick ausdrückte: «Reife ist, das Richtige zu tun, auch wenn es die Eltern empfohlen haben.»

Kein Platz für Tränen und Wut

Momente der Nähe mit ihrer Mutter gibt es in Sophias Erinnerung nicht. Obwohl diese sie immer wieder suchte und kuscheln wollte. Diese Annäherung konnte Sophia aber nicht annehmen. «Ich hatte mir auch nie mehr Nähe gewünscht. Ich wollte einfach nur ernstgenommen werden.»

Ein junge Mädchen mit geflochtenen Zöpfen umarmt ihr Mutter, die man nur von hinten sieht.
Legende: Eine Mutter soll Geborgenheit geben. Doch Nähe findet nicht längst in jeder Mutter-Kind-Beziehung statt. Imago Images/Zoonar

Sophia wurde oft laut. Doch statt sie zu fragen, warum sie wütend sei, habe die Mutter gemeint, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimme. Für Tränen oder Wutausbrüche war schlicht kein Platz. Oder keine Energie, wie Sophia heute realisiere.

Ablösung ja, aber wie?

Die gute Nachricht: Ablösung kann gelingen. Doch sie könne dauern und schmerzhaft sein, sagt Sandra Konrad. «Wirklich erwachsen sind wir, wenn wir uns von unpassenden elterlichen Erwartungen und Aufträgen befreien.»

Wir müssen aufhören uns zu wünschen, dass die Mutter so wird, wie sie nie war.
Autor: Sandra Konrad Einzel-, Paar- und Familientherapeutin

Was häufig noch schwieriger sei: Wir müssen uns von den eigenen Erwartungen lösen. Wir müssen aufhören uns zu wünschen, dass die Mutter so wird, wie sie nie war.

Wenn man sich zum Beispiel immer gewünscht hat, dass die Mutter endlich einmal ein Lob ausspricht, sie es aber in den letzten 40 Jahren nie getan hat, sei es an der Zeit zu akzeptieren, dass sie sich nicht ändern wird. Es gehe vielmehr darum, Enttäuschungen auszuhalten und gut für sich selbst zu sorgen.

Die eigenen Bedürfnisse erkennen

Sich selbst versorgen bedeutet für Konrad, sich selbst die beste Mutter oder der beste Vater zu sein: Sich um die eigenen Verletzungen kümmern, um die Anteile, die sich noch so viel von der Mutter wünschen und Mitgefühl für sich selbst zu haben.

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Aus dem Archiv: Mythos Mutter
Aus Sternstunde Religion vom 09.05.2010.
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Dazu gehöre auch, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und von denen der Mutter zu unterscheiden. Kam zum Beispiel der Glaubenssatz: «Du musst dich um andere kümmern» von der Mutter, oder gilt er noch für mein Leben?

Ausserdem gelte es Grenzen zu setzen und diese zu verteidigen. So werde man Schritt für Schritt emotional unabhängiger.

Die Mutter als Mensch wahrnehmen

Erst durch die Ablösung, sagt Konrad, gelinge es, die Mutter mit einem erwachseneren Blick zu sehen. Häufig sehe man plötzlich glasklar, dass sie aufgrund ihrer eigenen Kindheits- und Lebenserfahrung vielleicht gar nicht anders konnte. Dass sie schon alles gegeben hat, was ihr möglich war.

Für diesen erwachsenen Blick helfe auch, die Mutter nicht nur als Mutter wahrzunehmen, sondern als Mensch «mit eigenen Träumen und Bedürfnissen. Als junges Mädchen, als frisch Verliebte – als Tochter mit eigenen Mangelerfahrungen in der Kindheit.»

Ein Gespräch über die Kindheit, über die Eltern, die Grosseltern kann heilsam sein, sagt Sandra Konrad. Schliesslich sei unsere Mutter nur ein Glied in einer Kette von Müttern, die meist mit den besten Intentionen ins Familienleben gestartet sind.

Traumata auflösen

Besonders hilfreich ist der erwachsene Blick, wenn Traumata im Spiel sind. «Bei Traumata wissen wir, dass alles, was im Leben einer Generation nicht verarbeitet werden konnte, eine Auswirkung auf die Folgegeneration hat», sagt Konrad.

Traumaweitergabe funktioniert einerseits über erzählte Geschichten, aber auch über die verschwiegenen.
Autor: Sandra Konrad Einzel-, Paar- und Familientherapeutin

Ein unausgesprochenes Kriegstrauma kann sich in die Gefühlswelt des Kindes einschleichen, ohne dass es je konkret davon wusste. Es kann sich in Ängsten, Depressionen oder in einem Lebensgefühl äussern.

Konrad gibt ein Beispiel: Eine 15-jährige Klientin habe ganz starke Vergewaltigungsängste ausgebildet, ohne dass ihr etwas passiert war. Darauf angesprochen, erzählte auch ihre Mutter, dass sie im selben Alter solche Ängste empfand, ohne jemals missbraucht worden zu sein.

Es stellte sich schliesslich heraus, dass die Grossmutter während der Kriegszeit im gleichen Alter mehrfach vergewaltigt worden war, das Erlebte jedoch abgespalten und nie darüber gesprochen hatte.

«Traumaweitergabe funktioniert einerseits über erzählte Geschichten, aber auch über die verschwiegenen», sagt Konrad. Das Trauma wurde über das Schweigen und die Ängste weitergegeben.

Vergebung trotz Groll

Nach dem Tod ihres Vaters wollte Sophia nur noch weg. Ausziehen war eine Erlösung. Doch bei jedem Treffen flackerten die Streitereien wieder auf. Sophia, die ihre Gefühle inzwischen mit Hilfe einer Psychologin betrachtete, war wütend, dass ihre Mutter selbst nicht näher hinsah, keine Verantwortung übernahm.

Man kann auch inneren Frieden ohne die Mutter, ohne die Eltern finden.
Autor: Sandra Konrad Einzel-, Paar- und Familientherapeutin

Sophia brach den Kontakt ab. Ein Jahr lang herrschte Funkstille. Dann war sie bereit, den Kontakt wieder aufzunehmen, aber erst, als sie ihrer Mutter vergeben konnte. «Vergeben heisst nicht, dass ich gutheisse, was früher war. Aber dass ich loslasse von meinen Verletzungen und mich von Erwartungen löse.»

Erwachsener lieben

Genau diesen Punkt möchte Sandra Konrad unterstreichen: Ablösung geht auch ohne das Einverständnis der Eltern. Auch wenn es hart ist: «Man kann auch inneren Frieden ohne die Mutter, ohne die Eltern finden.»

Denn häufig, sagt Konrad, haben wir viel mehr Macht, als wir glauben. Wir müssen unsere Grenzen nur verteidigen. Wenn wir aufhören, uns die Vergangenheit anders zu wünschen, können wir die so freigesetzte Energie in die Gegenwart stecken und auf Augenhöhe neue Beziehungen zu den Eltern aufbauen.

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Das sei das Schöne: Bei der Ablösung gehe es nicht darum, die Eltern weniger zu lieben, sondern sie besser, erwachsener zu lieben.

Ein neues Verhältnis

Vor kurzem ist Sophia selbst zum ersten Mal Mutter geworden. Ihre Mutter kommt nun jede Woche vorbei und passt auf ihr Enkelkind auf. Wenn Sophia ihr dabei zuschaut, sieht sie vor allem eine sehr liebevolle Frau. Sie hat sich damit versöhnt, dass sie sich an diese Frau nicht erinnern kann.

Ihr eigenes Verhältnis sei heute in Ordnung, streitfrei, aber oberflächlich. Nähe zu ihrer Mutter möchte Sophia noch immer nicht. «Lange dachte ich, sie ist doch meine Mutter. Ich muss sie doch irgendwann nah ranlassen. Bis ich begriff: Das muss ich ja gar nicht.»

Buchhinweis:

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Sandra Konrad: «Nicht ohne meine Eltern: Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern». Piper Verlag, 2023.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 14.05.2023, 11:00 Uhr

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