Psychiaterin und Psychotherapeutin Silke Bachmann erklärt, wie Traumata von Generation zu Generation weitergegeben können.
SRF: Wie schwer muss ein erlebtes Trauma sein, dass es bis in die nächsten Generationen nachwirkt?
Silke Bachmann : Die Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Der Begriff Trauma wird heutzutage leider inflationär benutzt. Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Kontext verstehen wir darunter, dass aussergewöhnlich bedrohliche Situationen, zum Beispiel Opfer oder Zeugenschaft von Gewalttaten, Terror, Naturkatastrophen – aber nicht der natürliche Tod eines Nahestehenden oder die Trennung vom Partner – die Bewältigungsmöglichkeiten eines Menschen übersteigen. Aus dieser Diskrepanz können später Probleme oder sogar eine Krankheit entstehen.
Der Trauma-Experte Arne Hofmann beschreibt anschaulich als eine «komplizierte Wundheilung», bei der die Wunde äusserlich «scheinbar abgeheilt», sich darunter jedoch ein «schwerer Abszess» gebildet hat.
Wenn also das Erleben eines solchen Ereignisses langfristig Spuren hinterlässt, vielleicht sogar die Persönlichkeit sich verändert, wenn das Opfer über die Traumatisierung schweigt und das Erlebte vielleicht sogar aus dem Bewusstsein «abgespalten» wird, dann und in der Regel nur dann kann es zur transgenerationalen – unbewussten – Weitergabe kommen. Die Schwere spielt dabei viel weniger eine Rolle als das Erleben, die Verarbeitung und die Folgen für die Person in der 1. Generation.
Ich kann also als Betroffene meine Nachfahren nur schützen, wenn ich auch über das Trauma spreche?
Ja, als Betroffene kann ich den Bann brechen, indem ich über Geschehenes mit der Familie, mit Freunden, mit ebenfalls Betroffenen oder eben mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin rede. Es ist ein grosser Trugschluss anzunehmen, dass Schweigen die zweite Generation schützt. Das Gegenteil ist üblicherweise der Fall. Reaktionen der Eltern – in Worten, Klang der Stimme, Mimik und Verhalten – werden von Kindern als das Normale angesehen und nicht als eine besondere Reaktion auf eine Ausnahmesituation.
Erst im Kontakt mit Gleichaltrigen in Kindergarten oder Schule werden diese Kinder dann dadurch verwirrt, dass ihre Altersgenossen in bestimmten Situation ganz anders reagieren als sie selbst – beispielsweise auf Kritik einer erwachsenen Person nicht mit grosser Angst oder Sich-Verstecken. Es fehlt diesen Kindern also das Wissen um das Normale, das heisst das für ihr Alter, ihren gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Hintergrund Normale.
Reicht es schon, wenn nur ein Elternteil betroffen ist?
Ja. Am besten untersucht sind Mütter und Kinder, weil Mütter in der Regel die engeren Bezugspersonen der ersten Lebensjahre darstellen. Es kann aber auch der Vater ein unverarbeitetes Erleben weitergeben, wie zum Beispiel an ehemaligen Soldaten und ihren Söhnen gezeigt werden konnte. Söhne von Soldaten, die an einer Traumafolgestörung litten, wiesen Symptome auf – anders als Söhne von Soldaten, die psychisch gesund geblieben waren und Söhne von Zivilisten.
Wenn Eltern in der Lage gewesen wären zu reden, hätte die wortlose, aber nicht bewusste Weitergabe des Belastenden nicht stattgefunden.
Was können solche geerbten Symptome sein?
Die Schwierigkeiten sind sehr individuell, sie können denjenigen der Eltern ähneln. Das wesentliche Problem ist üblicherweise, dass Betroffene der zweiten Generation vom Erleben der ersten Generation und ihrer transgenerationalen Traumatisierung nichts wissen. Über das Schlimme wird ja gerade nicht gesprochen. Die Personen der zweiten Generation fühlen sich «irgendwie komisch» oder leer, sie leiden unter Ängsten oder depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen oder Energielosigkeit, nicht erklärbaren Körperbeschwerden, Problemen mit Alkohol oder Drogen und vielem mehr.
Selbst wenn sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, kann es sein, dass die transgenerationale Weitergabe eines Traumas nicht aufgedeckt wird. Im glücklichen Fall denkt die Therapeutin an diese Möglichkeit, Menschen aus der eresten Generation leben noch und sind schliesslich doch fähig, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Kurzum: Wenn Eltern in der Lage gewesen wären zu reden, hätte die wortlose, aber nicht bewusste Weitergabe des Belastenden nicht stattgefunden. Unbedingt betonen möchte ich, dass die Eltern keine Schuld trifft, denn Eltern versuchen immer, das Bestmögliche für ihre Kinder zu tun.
Mit Therapie lässt sich der Dominoeffekt auf die Folgegenerationen unterbrechen?
Ja, das ist möglich. Allerdings lässt sich zu den Erfolgsaussichten noch wenig sagen. Therapien bei transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierungen werden noch nicht lange erforscht. Die bisherigen Untersuchungen befassten sich vor allem mit dem Phänomen als solchem, nicht der Behandlung und bezogen sich grösstenteils auf Holocaust-Überlebende, später auch auf ehemalige Soldaten oder in der Schweiz auf Verdingkinder. Daher liegen zu der Frage der Erfolgsaussichten noch keine belastbaren Daten vor.
Müssten nicht so gesehen ganze Völker über Generationen mit Traumafolgen kämpfen – Beispiel 2. Weltkrieg, über den viele, die ihn erlebt haben, auch nicht gerne sprechen oder gesprochen haben?
Es gibt Forschungsergebnisse, nach denen eine grosse Anzahl Menschen aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an einer Traumafolgestörung leiden. Aber auch hier gilt, dass ähnliche Ereignisse von verschiedenen Menschen unterschiedlich erlebt und – je nach Persönlichkeit – unterschiedlich verarbeitet werden. Speziell in Kriegen oder bei Vertreibung und Flucht können das kollektive und verbindende Erleben sowie die gegenseitige Unterstützung dazu führen, dass Menschen diese Situationen relativ unbeschadet überstehen. Explizit davon ausnehmen möchte ich jedoch Folter und ähnliches sowie bezüglich der Zeit des 2. Weltkriegs den Holocaust.
Immer wieder kommt dabei auch die Genetik ins Spiel im Sinne der Epigenetik, also dass traumatische Erfahrungen derart heftig wirken, dass ganze Sequenzen des Erbguts beeinflusst werden, über die es dann auch zur Vererbung von Traumafolgen kommt. Stimmen Sie dem zu?
Tatsächlich existieren inzwischen einige Studien zur epigenetischen Wirkung von traumatischen Erlebnissen, und zwar – das ist wichtig – nicht nur im Tiermodell, sondern auch bei Menschen. So wurden beispielsweise Kinder im Alter bis zehn Jahre mehrmals untersucht. Kinder, die zuhause verbaler oder physischer Gewalt ausgesetzt waren, verloren über die Zeit gewisse Gen-Anteile. Das war bei gleichaltrigen Kindern ohne Gewalterleben nicht der Fall. Solche seriösen Studien muss man ernst nehmen. Sie sagen etwas aus über die Wirkung von Traumatisierungen, jedoch nicht über die Weitergabe.
Genetisch lässt sich etwas so Kompliziertes wie die menschliche Psyche mit ihren Funktionen wie Denken, Fühlen, Erleben nicht vollständig erklären.
Andererseits wissen wir bisher nicht, was vergleichbare Befunde für das Leben eines Menschen bedeuten. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir uns auf unterschiedlichen Ebenen bewegen, wenn wir einerseits von Genetik sprechen und andererseits von Lernen oder gar unbewusster Weitergabe zwischen den Generationen. Beide Ebenen haben ihre Berechtigung. Genetisch lässt sich etwas so Kompliziertes wie die menschliche Psyche mit ihren Funktionen wie Denken, Fühlen, Erleben nicht vollständig erklären. Ausserdem sind wir von Interaktionen mit anderen Menschen geprägt, durch einen jeweiligen kulturellen, politischen, historischen Kontext.
Das beste Modell zur Weitergabe von Traumatisierungen bietet momentan die Bindungsforschung. Ab dem ersten Lebenstag treten Mutter und Kind in eine soziale Interaktion ein, die üblicherweise zu einer sicheren Bindung führt, dem Grundvertrauen. Mütterliche Ängste, Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse gehen genauso in den Umgang mit dem Kind ein wie liebevolle Gefühle – so geschieht die Weitergabe der Traumatisierung und wird vom Baby unbewusst aufgenommen.