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Nach dem Brand der Notre-Dame «Tourismus ist ein Allesfresser»

Nach dem Brand der Notre-Dame von Paris ist von der «Zerstörung eines unschätzbaren Erbes» die Rede. Doch wie original war dieses Bauwerk, das als Erbe des Mittelalters bewundert wird, vor dem Brand? Und: Was bedeutet der von Präsident Macron versprochene «Wiederaufbau» der Notre-Dame für diesen Hotspot des globalen Geschichtstourismus?

Historiker Valentin Groebner ist mit diesen Fragen vertraut. 2018 erschien sein Buch «Retroland – Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen».

Valentin Groebner

Geschichtsprofessor

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Valentin Groebner ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Er hat ein Buch über die Bedeutung von Gesichtern in der Vergangenheit und Gegenwart geschrieben.

Foto: Franca Predrazzetti

SRF: Warum produzieren historische Stätten wie die Notre-Dame diese starken Gefühle?

Valentin Groebner: Die grossen mittelalterlichen Kathedralen wurden im 19. Jahrhundert zu einer Verkörperungen des Nationalen, das auch religiös, aber vor allem patriotisch aufgeladen ist. Dieses «Wir» gab es im Mittelalter nicht. Das sind moderne Kriterien im Zeitalter der Massenmedien und vor allem der Fotografie.

Der Historiker Camille Pascal schrieb in der französischen Zeitung «Le Figaro»: «Diese Kathedrale wacht seit achteinhalb Jahrhunderten über Frankreich.» Wie alt ist das Bauwerk wirklich? Wie echt ist es wirklich?

Was da wacht, ist vielleicht nicht die Kathedrale, sondern der französische Romancier Victor Hugo, der 1830 den Bestseller «Notre-Dame de Paris» geschrieben hat. Das hat den ganzen Weg der Popularisierung bis hin zum Disney-Zeichentrickfilm absolviert.

Die Gefühlsnarrative aus dem 19. Jahrhundert sind bis heute wirkungsmächtig.

Präsident Macron hat versprochen, dass die Kathedrale wieder aufgebaut wird. Was wird das für ein Baudenkmal sein?

Das wird mit Sicherheit ein sorgfältig rekonstruiertes, wunderbares, nach dem letzten technischen Stand der Dinge wiederhergestelltes Bauwerk sein. Frankreich ist ein moderner Industriestaat. Die Franzosen werden sich an diesem nationalen Symbol nicht lumpen lassen.

Das Mittelalter ist der Klebstoff des Nationalen.

Ich finde interessant, dass die Gefühlsnarrative aus dem 19. Jahrhundert bis heute ungebrochen wirkungsmächtig sind. Niemand kann sagen, dass ihm das egal ist und dass das schon wieder in Ordnung kommt. Es braucht das demonstrativ vorgetragene Gefühl.

Was steckt hinter diesen Fantasien?

Was das Mittelalter angeht, haben wir das 19. Jahrhundert nicht verlassen: Das Mittelalter ist der Klebstoff des Nationalen. Schon bei Victor Hugo ist das komplizierte Verhältnis zwischen der katholischen französischen Kirche und dem französischen Staat mitgemeint.

Ein Schwarz-Weiss-Bild der Notre-Dame.
Legende: Beschädigt, wiederaufgebaut, in den Stand eines Monuments versetzt: Die Notre-Dame im Jahr 1911. Keystone

Notre-Dame de Paris ist während der Französischen Revolution wie die meisten anderen mittelalterlichen Pariser Kirchen schwer beschädigt und gezielt verwüstet worden. Sie wurde vom Staat des 19. Jahrhunderts wieder in Ordnung gebracht. Die Kathedrale wurde in den Stand des Monuments versetzt – eine nationale Aufgabe, die jetzt auch wieder beschworen wird.

Wird es für den Tourismus eine Rolle spielen, was das für ein neues Baudenkmal sein wird?

Tourismus ist ein Allesfresser. Ich lebe in Luzern – hier wurde die Kappelbrücke nach dem Brand originalgetreu wiederaufgebaut. Heute wird sie von vielen Leuten besucht, die dort das Echte und die Zerstörung des Echten gleichzeitig authentisch erleben – mithilfe von Bildern.

Ich nehme an, dass auch die Postkarten von der brennenden Kathedrale Notre-Dame de Paris in Zukunft an allen Pariser Ansichtskarten-Ständen zu finden sein werden.

Das Gespräch führte Andreas Klaeui.

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