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Bayo Akomolafe: Wenn die Zeit drängt, hilft es, zu entschleunigen
Aus Sternstunde Philosophie vom 10.03.2024.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 57 Minuten 57 Sekunden.
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Nachhaltiger Lebensstil Wie wir aus dem Teufelskreis der Krisen herausfinden

Kriege, Konflikte, Klimawandel: Wenn wir Krisen überstehen wollen, reicht es nicht, einfach schneller zu rennen. Lieber kurz durchatmen, meint der Psychologe und Philosoph Bayo Akomolafe. Er sieht in indigenen Weisheiten und Spiritualität einen Ausweg aus der Dauerkrise.

Es ist ein starkes Bild: Ameisen, die im Kreis laufen. Runde für Runde. Bis sie tot umfallen. Sie folgen blind den Duftspuren ihrer Vorgänger, die irgendwann mal einen Fehler gemacht haben und in die eigene Spur eingebogen sind. Nun drehen sie sich im Kreis und sitzen in einer tödlichen Falle, in einer sogenannten Ameisenmühle.

Genauso stecken auch wir Menschen derzeit fest, sagt der nigerianische Psychologe und Philosoph Bayo Akomolafe. Unsere Lebensform. Unsere Wirtschaftsform. Wir befinden uns in einem tödlichen Zirkel, rennen immer schneller im Kreis, ohne es zu merken.

Die Lösungen, die wir vorschlagen, sind Teil des Problems. Life-Coaches und Unternehmensberater spornen uns noch an, indem sie uns versichern, wir seien fast am Ziel, hätten es fast geschafft. Bis wir irgendwann nicht mehr können und zusammenbrechen.

Auf Pause drücken, bitte!

Bayo Akomolafe ist überzeugt: Wir brauchen einen radikal neuen Umgang mit der Natur, ein neues Denken und Fühlen. Wir müssen wieder lernen, der Natur zuzuhören und uns von ihr berühren zu lassen.

Bayo Akomolafe

Bayo Akomolafe

Psychologe und Philosoph

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Bayo Akomolafe ist ein nigerianischer Psychologe, Philosoph und Aktivist. Er unterrichtet in den USA und wohnt mit seiner Familie in Chennai, Indien. Akomolafe ist ein weltweit gefeierter Redner und Autor des Buches «These Wilds Beyond our Fences: Letters to my Daughter on Humanity’s Search for Home».

Post-Aktivismus statt Aktivismus, nennt er das und stellt die paradoxe Forderung auf: «Wenn die Zeit drängt, sollten wir es langsam angehen.» Einen Schritt zurücktreten, die Perspektive wechseln, die Dinge grundlegend infrage stellen. Den Zirkel durchbrechen.

Leben in einer post-humanen Welt

Wir Menschen stehen nicht über der Natur, meint Akomolafe, sondern sind zutiefst mit ihr verwoben und vor ihr abhängig: von Bakterien, Viren, Pilzen, Algen, Pflanzen und Tieren, aber auch vom Klimawandel, von Meeresströmen und tektonischen Verschiebungen.

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Richard Powers – wir Menschen sind Teil der Natur
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abspielen. Laufzeit 56 Minuten 32 Sekunden.

Wir sind nicht die einzigen Agenten auf der Welt, die Handlungsmacht haben. Im Gegenteil: Wir sind nur ein kleiner, unwichtiger Teil eines grossen Ganzen, wo alles mit allem verwoben ist.

Das ist der Grund, warum sich Akomolafe als «Post-Humanist» bezeichnet, in Anlehnung an feministische Denkerinnen wie Donna Haraway, Karen Barad oder Rosi Braidotti. Sie alle möchten, wie Akomolafe, gängige Denkmuster überwinden und starre Gegensätze durchbrechen – wie Mensch-Tier, Natur-Kultur oder Mann-Frau.

Der Tod durchdringt das Leben. Er macht das Leben lebendig.
Autor: Bayo Akomolafe Psychologe und Philosoph

In diesem Weltbild des Neo-Materialismus ist alles flüssig und miteinander verwoben. Die nicht-menschliche Welt redet überall mit und mischt sich ein. Bakterien genauso wie der Klimawandel oder die Künstliche Intelligenz.

Den Tod zurück ins Leben holen

Bayo Akomolafes Vater verstarb, als sein Sohn fünfzehn Jahre alt war. Dieser frühe Verlust hat den angehenden Psychologie-Studenten in eine tiefe Krise gestürzt. Auf dem Weg zur Heilung suchte Akomolafe auch Hilfe in der traditionellen nigerianischen Kultur der Yoruba und sprach mit verschiedenen Heilern.

Hier lernte er ein ganz neues Weltbild kennen und eine andere Sicht auf den Tod: «Der Tod ist kein spektakuläres Ereignis am Ende des Lebens», ist Akomolafe heute überzeugt. «Der Tod durchdringt das Leben. Er macht das Leben lebendig.»

Die Natur erschafft ständig neues Leben aus altem. Das ist das Geschäft von Pilzen, Würmern und Bakterien. Und auch für unser menschliches Leben gilt: Jeder Neuanfang setzt ein Loslassen voraus.

Alles ist miteinander verbunden

Die traditionellen Heiler der westafrikanischen Yoruba-Kultur haben Akomolafe zudem gelehrt: Wir Menschen sind nicht allein. Niemals.

Die Welt ist erfüllt von Leben, von Kräften, von Geistern und Ahnen. Wir sind Teil eines grossen, lebendigen Gefüges. Ein Yoruba-Heiler meinte darum vorwurfsvoll: «Ihr habt alle Geister und alle Kräfte verbannt und eure Autobahnen gebaut, und nun beschwert ihr euch, dass es euch nicht gut geht?!»

Bayo Akomolafe im blauen Hemd mit weissen Streifen trägt ein Mikrofon und hält seine Hand zum Ohr.
Legende: Wir müssen wieder lernen, der Welt zuzuhören: Als Redner plädiert Bayo Akomolafe für eine Rückbesinnung auf die Natur. Getty Images/Jemal Countess

Bayo Akomolafe spricht heute alle Menschen, denen er begegnet, als «Bruder» und «Schwester» an. Darin liegt, wie er selbst sagt, «eine spirituelle Einladung zu einer anderen Art des Seins, einem anderen Gefühl der Verkörperung, einem anderen Verständnis von Identität».

Tatsächlich schafft er mit solchen keinen Gesten, etwa mit einer Umarmung zur Begrüssung, eine andere Stimmung im Raum, eine andere Präsenz. Man ist geneigt, zu sagen: ein anderes Grundgefühl des Seins. Das Verbundensein.

Auch Klimawandel und Sklavenhandel hängen zusammen

Für Akomolafe geht es beim Klimawandel nicht primär um Treibhausgas-Emissionen und CO₂-Steuern: «Selbst, wenn wir das Netto-Null-Ziel in ein paar Jahren erreichen, haben wir uns immer noch nicht mit den kolonialen kapitalistischen Herrschaftsansprüchen auseinandergesetzt, die den transatlantischen Sklavenhandel ausgelöst haben. Wir haben uns immer noch nicht mit dem Anthropozän befasst.»

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Der Klimawandel sei nicht das Wetter, das verrücktspielt. Unsere Körper verwitterten auch. «Es geht darum, wie wir die Zeit betrachten, wie wir mit Wirtschaft umgehen, wie wir über Kinder und über Schule und Bildung denken. Alles ist Teil der humanistischen Sphäre, die das Anthropozän fortentwickelt.»

Kurz: Alles hängt mit allem zusammen. Es braucht also eine umfassende und grundlegende Änderung, keine blosse Symptombekämpfung.

Schluss mit Individualismus

Im Grunde geht es Akomolafe um die Überwindung dessen, was er «weisse Moderne» (white modernity) nennt: der Glaube an die Vorherrschaft des Menschen in der Welt. Er sucht also nach Alternativen zu Herrschaft und Individualismus, zu technologischem Fortschrittsglauben, Kapitalismus und Wachstum. Um Denkmustern und starre Identitäten zu durchbrechen.

Die Prämisse des Individuums wird infrage gestellt.
Autor: Bayo Akomolafe Psychologe und Philosoph

Akomolafe ist nämlich der Meinung, dass die «weisse Moderne» an ihr Ende gekommen sei: «In meiner Lesart höhlt sich die weisse Stabilität langsam aus. Sie liegt im Sterben. Wir spüren das in der Pandemie, im Anthropozän und in der Erschöpfung der Menschen durch das Aufkommen von Technologien wie ChatGPT. Die Prämisse des Individuums wird infrage gestellt.»

Raus aus der Ameisenmühle – aber wie?

Wir Menschen sind keine isolierten Punkte, sondern Knoten in einem weltumspannenden Netz. Diese Einsicht gilt es zu verstehen, zu verkörpern und in die Politik zu tragen. «Politik muss die Form von Kunst annehmen, von einem Experiment. Sie muss über den Protest gegen die Macht hinausgehen und muss Dinge erschaffen.» Davon ist Akomolafe überzeugt.

Wir brauchen Dinge, die uns berühren, wie Kunst, Musik, Festivals, soziale Aktionen, aber auch «Karneval», wie Akomolafe mit einem Lächeln sagt. Nicht zufällig wählt er den Karneval, der alle Hierarchien auflöst, die Welt auf den Kopf stellt und ein kreatives Spiel der Identitäten zulässt. Eine Gegenwelt, in der man über alles lachen darf. Auch über den Tod, den unsere Kultur so sehr fürchtet und verdrängt.

Vielleicht hat Akomolafe ja recht, wenn er meint, dass wir vor allem eines brauchen: ein neues und zugleich uraltes Verständnis vom Tod und vom Sterben. Eine andere «Kosmologie des Todes», wie er das nennt. Vielleicht ist das der Ausweg aus unserer Ameisenmühle. Den Tod als allgegenwärtiges und schöpferisches Element des Lebens zu sehen.

SRF2, Sternstunde Philosophie, 10.03.2024, 11:00 Uhr

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