SRF: Harald Welzer, wann legen Sie sich ein Smartphone zu?
Harald Welzer: Sobald ich von geheimen Mächten entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen werde.
Woher rührt Ihre Abneigung gegen das Digitale?
Digitalisierung tritt mit dem Anspruch auf, Dinge zu verbessern. Dabei beschleunigt sie aber Prozesse, die in eine falsche Richtung laufen.
Vorteile sehe ich in der schnelleren Informationsbeschaffung oder Übermittlung – doch für mich überwiegen die Nachteile. Auf individueller Ebene stelle ich fest: Alle Leute haben weniger Zeit als noch vor zehn Jahren. Trotzdem wird ständig behauptet, man habe die Lebensqualität und das Zeitbudget gesteigert.
Digitalisierung befeuert den Konsum und Energieverbrauch. Mich interessiert, was sie zur Verlangsamung beitragen kann.
Sie prangern die Visionen vorwärtsdrängender Tech-Gurus an. Ist in puncto Digitalisierung Stehenbleiben das bessere Vorwärtskommen? Oder liegt die Lösung gar im Rückschritt?
Ich bin der Meinung, dass alle Menschen unter Kollateralfolgen von Entwicklungen leiden, die wir nicht geplant und nicht vorhergesehen haben. Warum sollen wir nicht mal stehenbleiben?
Warum gehen wir nicht ein paar Schnitte zurück? Warum ist es derart undenkbar, überhaupt so etwas zu sagen?
Die Geschichte zeigt eine Fülle hirnrissiger Innovationen. Wir optimieren die Fehler – sollten aber besser einen Schritt zurück, um sie zu korrigieren.
Konzerne wie Google, Facebook, Amazon und Co. wissen immer mehr über uns. Welche Macht ist mit diesen Daten verbunden?
Das wissen wir nicht. Die Firmen besitzen eine undurchsichtige Weite an Daten und können diese so verknüpfen, dass sie viel mehr über uns wissen als wir selber.
Kennt uns der Algorithmus tatsächlich so gut?
Zu dieser Annahme gehört auch viel Reklame. Als Wissenschaftler ärgert mich das unwissenschaftliche Behaupten. Was als Erfolg der Digitalisierung gepriesen wird, hat oft einen ganz anderen Ursprung.
Nehmen wir das «Targeting»: Die Polizei rückt zu errechneten Hotspots der Kriminalität aus. Die Erklärung für den Erfolg dieses Vorgehens ist die der sogenannte selbsterfüllenden Prophezeiung. Wo mehr Polizisten sind, werden automatisch mehr Verbrechen aufgeklärt.
Worin besteht die Freiheitsbeschränkung, wenn wir dank Digitalisierung zu neuen Möglichkeiten kommen?
Wo sie Sachen nur noch digital erledigen können, werden sie der Freiheit beraubt. Diese Entwicklung ist rasant auf dem Vormarsch – ohne, dass jemals einer danach gefragt hätte.
Gehen mit Neuentwicklungen also auch immer Zwänge einher?
Ja. Man wird gezwungen, die entsprechende technische Ausrüstung für die Teilnahme zu haben. Das schränkt die Autonomie erheblich ein.
Die Privatsphäre wird uns immer weniger wichtig. Wie konnte es dazu kommen?
Das ist mir unerklärlich. Alle Diktaturen haben Interesse daran, jegliche Form von privaten Absprachen zu unterbinden und das Individuum zu isolieren.
Privatheit ist essentiell für einen modernen Rechtsstaat. Geben wir sie auf, sind wir schutzlos ausgeliefert.
Wir leben in einem Universum der Transparenz.
Viele Menschen tauschen ihre Privatsphäre nicht mehr bereitwillig ein und weichen beispielsweise auf verschlüsselte Kanäle aus.
Weil unsere Privatsphäre angegriffen wird, brauchen wir das alles überhaupt. Es kann doch nicht sein, dass wir mit einem Selbstverständnis davon ausgehen, in unseren bürgerlichen Rechten beschnitten zu werden und uns dann dagegen wehren müssen.
«Ich habe ja nichts zu verbergen», «Ich kann mich ja schützen» – exakt bei solchen Aussagen beginnt die Unterminierung des modernen Rechtsstaates.
Man kann zwar solche Argumente vorbringen, doch das ist nicht der Sinn eines modernen Rechtsstaates. Ein solcher sollte allen Individuen dieselben Rechte garantieren, ganz unabhängig davon, wer das Individuum ist.
Wo ist «Big Data» am gefährlichsten?
Wir leben in einem Universum der Transparenz: Sie können nicht auf die Strasse gehen, ohne von einer Kamera erfasst zu werden. Nicht in den Verkehr, ohne gefilmt zu werden. Sich nicht bewegen, ohne von einer Gesichtserkennungs-Software erfasst zu werden. Dieses Gespräch kann von X, Y, Z mitgehört und verwendet werden.
Das Gesetz zur informationellen Selbstbestimmung wird von allen diesen Technologien radikal unterlaufen und ich verstehe nicht, warum das überhaupt niemand bemerkenswert findet.
In der Euphorie sind alle damit beschäftigt, die Technologie zu verteidigen. Aber wer verteidigt unsere Grundrechte?
Wie müsste man vorgehen, um seine Rechte einzufordern?
Keine Ahnung. Die Politisierung des Themas ist vieler Versuche zum Trotz total gescheitert. Sogar der ökonomische Wettbewerb ist heute debattentauglich. Die Digitalisierung wird aber wie eine Naturgewalt hingenommen.
Das Gespräch führte Sofiya Miroshnyk.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 30.7.17, 11:00 Uhr