Kann man gleichzeitig mehrere Menschen lieben? Meine vierjährige Nichte sagt: «Ja!» Mama, Papa, ihre Schwester, die Grosseltern, ihre Freundin Camille – und das Plüschtier Pikachu.
Was in Kinderaugen selbstverständlich ist, erleben Erwachsene komplizierter. Unsere Gesellschaft hält an der Vorstellung fest, dass die wahre Liebe romantisch, sexuell und exklusiv gedacht werden muss, also mit Blick auf eine Person.
Doch ist polyamor gleich flatterhaft in Liebesdingen? Gegen dieses Klischee argumentiert Toni Loh, Professur für Angewandte Ethik an der Hochschule Bonn-Rhein-Siegen. Polyamorie heisst für Loh, nicht nur viele Menschen zu lieben und verschiedene Beziehungen zu pflegen, sondern auch eine sorgsame Haltung zu entwickeln: zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen, zur Welt.
Polyamorie wird oft missverstanden. Zwei Aspekte, die im allgemeinen Sprachgebrauch verloren gehen, seien – so Loh – besonders wichtig: Erstens hat Polyamorie nichts mit Fremdgehen zu tun.
Polyamorie bedeutet «das konsensuelle Eingehen mehrerer Liebesbeziehungen gleichzeitig», sprich: Alle Beteiligten müssen einverstanden sein und gehen transparent miteinander um. Wie viele Partnerinnen oder Partner man hat, ob es Hierarchien zwischen den Liebesbeziehungen gibt oder alle gleich gewichtet werden – das müsse man offen kommunizieren.
Liebe hat viele Gesichter
Zweitens hat Liebe nicht nur eine Facette. Viel zu oft wird Liebe auf die Hollywood-Vorstellung einer romantischen Beziehung reduziert. Polyamorie hingegen eröffnet für Loh einen Raum, in dem Liebe und Intimität vielfältige Formen annehmen können: Eine Liebesbeziehung kann asexuell sein, die beste Freundin den gleichen Stellenwert haben wie der Lebenspartner.
Die klassische Abstufung von Liebespartnerschaft, Familie, Freundschaft wird damit aufgelöst. Das heisst nicht, dass die Beziehungen beliebig sind, so Loh. Vielmehr steht in der Polyamorie die Verantwortung im Vordergrund, die man für all seine Lieben trägt. Klingt einfach – aber ist es das auch?
Die Popsängerin Lily Allen zeichnet in ihrem neuen Album «The West End» ein wenig schmeichelhaftes Bild der offenen Ehe. Im Interview mit dem «Perfect Magazine» sagt sie: «Ich bin in einem sehr instabilen Haushalt aufgewachsen. Und was ich mir als Erwachsene von Beziehungen gewünscht habe, war, stabil zu sein.»
Trotzdem hat sie jahrelang in einer offenen Ehe gelebt, was wohl nicht zuletzt dran liege, dass «Frauen sich irgendwie spiessig fühlen, wenn sie da nicht mitmachen».
Offenheit muss nicht Gleichheit bedeuten
Ihre Kritik trifft einen wunden Punkt: In unserer Gesellschaft gilt «offen» als progressiv, als Befreiung von alten Mustern. Den Preis dafür zahlen jedoch meist die Frauen. Feministische Theoretikerinnen und Theoretiker weisen darauf hin, dass «Offenheit» in Beziehungen nicht automatisch Gleichheit bedeutet.
Gerade in polyamoren Konstellationen braucht es viel emotionale Arbeit, Kommunikation und das Aushalten von Ambivalenz. Und diese Arbeit würde häufig von Frauen geleistet. Was als Befreiung gedacht ist, kann zur Mehrbelastung werden.
Und weiter meint Loh: «Manchmal wird ‹Sorry Baby, ich bin halt poly› zur Entschuldigung für Betrug und ganz einfach egoistisches Verhalten» – was wiederum die Idee von Zustimmung und Transparenz pervertiert.
Die Krux mit der Eifersucht
Ein weiteres Problem: die Eifersucht. Wie umgehen mit dem Stechen in der Brust, wenn mein Ein und Alles sich in jemand anderen verliebt? Was, wenn man vom Gefühl, zu kurz zu kommen, geplagt wird?
Die jüngere Generation scheint sich von Eifersucht nicht abschrecken zu lassen: Laut einer Sotomo-Umfrage für SRF finden 61 Prozent der 18- bis 25-Jährigen, dass nicht monogame Beziehungsformen wie Polyamorie künftig normal und akzeptiert sein könnten.
Philosophin Barbara Bleisch bringt einen bestechenden Vergleich: Niemand würde sagen: «Ich kann mein zweites Kind nicht lieben, weil ich schon eins habe.» Im Gegenteil – die Erwartung ist, dass wir beide gleich lieben müssen. Warum scheint es dann in romantischen Liebesbeziehungen so viel schwieriger zu sein?
Eifersucht könne auf eine innere Unsicherheit oder Unklarheit über den Status der Beziehung hindeuten, so Loh. In einer polyamoren Haltung können wir dann versuchen, die Eifersucht zwar ernst zu nehmen, aber auch zu hinterfragen. Ist Verlustangst in erster Linie ein Symptom der romantischen Monobeziehung, die «zusammengehören» gleichsetzt mit «sich exklusiv und allein gehören»?
Besitzanspruch – ein Relikt?
Zur Beziehungsform der Monogamie gehört nicht nur die bedingungslose Liebe, sondern häufig auch ein krasser Besitzanspruch. Aber ist mein Partner wirklich mein?
In der Monobeziehung besteht die Gefahr, dass wir uns selbst verleumden.
Besitzansprüche bringen mit sich, dass wir gewisse Gedanken, Wünsche und Hoffnungen gar nicht erst zulassen. So stellt sich bei vielen ein schlechtes Gewissen ein, wenn sie Zeit mit anderen Leuten verbringen, sich Nähe zu einer anderen Person wünschen oder diese sexuell begehren.
«In der Monobeziehung besteht die Gefahr, dass wir uns selbst verleumden, weil wir gewissen Gefühlen gar keinen Platz lassen, da sie als Gefahr für die Zweierbeziehung gesehen werden», sagt Loh.
«Liebe wird mehr, wenn wir sie teilen»
Das ist paradox, denn eigentlich gibt es nichts Schöneres, als sich zu lieben. Warum sich nicht gemeinsam über Schmetterlinge im Bauch freuen, anstatt in Schuldgefühlen zu baden? Loh betont, Liebe sei eine unbegrenzte Ressource.
Zwar ist unsere Zeit begrenzt – doch das spricht für eine bewusste Einteilung, nicht gegen Vielfalt in der Liebe. Liebe muss keine «Teilete» sein, bei der für die Einzelne oder den Einzelnen immer weniger abfällt, je mehr Menschen vom Kuchen essen möchten. Im Gegenteil, «Liebe wird mehr, wenn wir sie teilen.»
Warum Rollenbilder Beziehungen sprengen
Wahrscheinlich zerbrechen Beziehungen nicht daran, dass man mehr als eine intime Beziehung lebt. Vielleicht ist das Gefühl, in der monogamen Beziehung in eine Rolle gezwängt zu werden, die man nie wollte, ebenso destruktiv.
Denn in unserer Gesellschaft beherrschen nach wie vor heteronormative Klischees über das «Wesen» von Mann und Frau unser Denken. Wir Menschen, so Loh, haben jedoch vielschichtige und komplexere Begehren, als wir uns eingestehen oder uns gesellschaftliche Normen vorgaukeln.
Ein Kaleidoskop der Nähe
Die Autorin Miranda July schreibt in ihrem Roman «Auf allen vieren»: «Auch ich zeige mein wahres Gesicht, aber immer nur eins meiner vier oder fünf – jedes real und mit ganz eigenen Bedürfnissen. Ich bin ein Kaleidoskop, und jede glitzernde Glasscherbe changiert, sobald ich mich bewege.» Zentrale Themen des Buches sind die offene Ehe, die Auflösung traditioneller Beziehungsformen und die damit verbundenen Gefühlslagen.
Die einzig gefährliche Lüge sei es, auf «ein einzig praktisches Wesen» reduziert zu werden. Mit all den Menschen, die wir lieben, entwickeln wir spezifische Verhaltens- und Sprechweisen. Das Blödeln mit dem Kindheitsfreund, die intellektuellen Höhenflüge mit den Kolleginnen und Kollegen, das Kuscheln unter der Bettdecke mit der besten Freundin. All das ist Ausdruck von Verbundenheit und Intimität.
Dahinter stecken so unterschiedliche Bedürfnisse. Wen würde es wundern, wenn diese nicht von einem einzelnen Menschen erfüllt werden könnten.
Liebe: am besten gut verteilt!
Was uns einzigartig macht, erklärt Loh, entsteht und wächst in Beziehungen. Eine polyamore Haltung heisst, unsere Beziehungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bewusst, aufrichtig und liebevoll zu gestalten.
Unabhängig davon, welche Regeln man sich als Paar gesetzt hat – eine polyamore Haltung kann helfen, die normativen Bilder aufzubrechen, die unsere Gesellschaft strukturell verankert und immer wieder reproduziert. Sie hilft, unsere Wünsche und Bedürfnisse nicht nur auf eine einzige Person zu projizieren, sondern zu verteilen. Liebesbeziehungen sind bunt, sie prägen und verändern uns.
Nehmen wir die Liebe in ihrer Vielfalt ernst, so nehmen wir uns selbst und unsere Mitmenschen ernst, resümiert Loh.