Er äussert sich zur Flüchtlingskrise, zur Steuerpolitik oder zur Zukunft Europas und löst dabei regelmässig gehässige Reaktionen aus: Peter Sloterdijk. Eine kritische Zeitdiagnose mit einem der einflussreichsten, aber auch kontroversesten Philosophen der Gegenwart.
SRF: Wir leben in einer globalisierten Welt. Ist der Mensch überhaupt dazu geschaffen, in globalen Zusammenhängen zu denken?
Peter Sloterdijk: Nein, er ist mit Sicherheit nicht dafür geschaffen. Aber er ist zugleich – und das wissen wir seit 4000 Jahren – ein Geschöpf, das auf eine solche Überforderung grundsätzlich mit zwei Antworten reagieren kann: Er kann entweder versuchen, sie zu untertauchen und so tun, als hätte man sie nicht auf ihn wirken lassen.
Die meisten würden abstreiten, dass es Menschen überhaupt zu gut gehen kann.
Oder er setzt sich dem Überfordernden aus und nimmt das Risiko des Persönlichkeitswandels, des Persönlichkeitswachstums auf sich.
Sie schreiben, in unseren Breitengraden bestehe der Verdacht einer Wohlstandsverwahrlosung. Geht es den Menschen hier zu gut?
Ich glaube, die meisten würden abstreiten, dass es Menschen überhaupt zu gut gehen kann. Dieser Vorwurf, dass es Menschen zu gut geht, geht meines Wissens auf Autoren wie Tacitus, Cato der Ältere und Cato der Jüngere zurück.
Ich glaube, dass die moderne Welt eine ist, die als erste so etwas wie Luxusprobleme kennengelernt hat.
Sie waren noch in der altrömischen Tugend erzogen worden und haben für sich selbst geworben, indem sie sagten: Ich schlafe auf einem Feldbett und benutze nicht wie mein Kollege goldenes Geschirr.
Vielleicht sollten wir aber wieder einmal auf dem harten Boden schlafen. Sind wir verweichlicht geworden?
Ich glaube tatsächlich, dass die moderne Welt eine ist, die als erste so etwas wie Luxusprobleme kennengelernt hat. Es ist ein typisches Phänomen unserer Tage, dass es Personen gibt, die spezialisierte Hilfe brauchen, ihre Wohnung aufzuräumen.
Die Menschen kommen nicht mit der Zumutung zurecht, ein Individuum zu sein.
Und dabei erfahren sie dann, dass sie ungefähr 10'000 Gegenstände in ihrer Wohnung akkumuliert haben, von denen mindestens 9’500 entbehrlich sind. Wir umgeben uns also mit mehreren dichten Hüllen von Überflüssigkeiten, in denen die Luxusprobleme bereits anwesend sind.
Kategorien wie Hautfarbe oder Herkunft werden wieder wichtig in einer Zeit, in der wir so viele Freiheiten haben wie nie zuvor. Warum sind Identitäten plötzlich so wichtig geworden?
Weil die Menschen nicht mit der Zumutung, ein Individuum zu sein, zurechtkommen. Sie werden aufgefordert, mehr zu sein, als sie sein können und das heisst, mehr aus sich zu machen als sie bisher gemacht haben.
Das, was man ohnehin schon ist, wird nochmals zum Inhalt aufgeblasen.
Sie merken, dass ein Individuum eigentlich nicht mehr ist als eine Hülle, die mit irgendwas gefüllt werden muss.
Und wie äussert sich das?
Das Naheliegende ist immer, dass man Männlichkeit in die männliche Hülle stopft und Weiblichkeit in die weibliche Hülle presst. Oder dass man farbige Kultur in die leere Hülle von «People of Colour» füllt.
Auf diese Weise entstehen Pseudoidentitäten: Das, was man ohnehin schon ist, wird nochmals zum Inhalt aufgeblasen. Dabei ist der Ausgangspunkt eigentlich die Empfindung, im Leeren zu stochern, weil das Ich aus sich selbst nicht so viel herausholen kann, wie die Individualität fordern würde.