In der deutschen Komödie «Wir sind die Neuen» von Ralf Westhoff (2014) gründen drei Alt-68er eine WG. Nach kurzer Zeit kommt es zum Konflikt mit der benachbarten Studenten-WG: Während die Studierenden eisern für ihre Prüfungen büffeln und sich höchstens eine Auszeit für Fitness gönnen, frönen die jung gebliebenen Fast-Rentner einer Party nach der anderen.
Das Bild, das der Film von den heutigen Studierenden abgibt, ist freilich überzeichnet. Die Jugendbefragung von 2017 unterstützte allerdings den Eindruck einer Generation, die sich nach einem bürgerlichen Leben sehnt mit Heirat, Eigenheim und stereotypen Geschlechterrollen.
Die Gesellschaft braucht Störenfriede
Fleissig wird gepaukt, das Leben nach Plan angegangen. Am schlimmsten wäre der gesellschaftliche Abstieg. Wer könnte gegen solche Disziplin schon etwas einwenden? Erst mal natürlich keiner.
Und doch wäre eine Gesellschaft der Angepassten auf Dauer ein Problem. Für den britischen Philosophen John Stuart Mill sind wir als Gesellschaft auf Pluralismus, auf Störenfriede und Exzentriker angewiesen.
Exzentriker war auch er selbst: Er legt gleich zu Beginn seiner Schrift «Über die Freiheit» (1859) offen, dass diese auch das geistige Eigentum seiner «Freundin und Gattin» Harriet Taylor Mill sei. Ja, dass er ihr sogar «das Beste» in seinen Schriften verdanke.
Mitte des 19. Jahrhunderts war es mehr als ungewöhnlich, dass Mann und Frau gemeinsam philosophierten – zumal Harriet zu Beginn der Liaison noch verheiratet war.
Rechtlich verboten war ihre Zusammenarbeit freilich nicht. Doch individuelle Freiheit muss auch gar nicht in erster Linie gegen staatliche Interventionen verteidigt werden. Die schlimmsten Fesseln legt uns vielmehr die Gesellschaft in Form einer «Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens» an, wie bei Mill zu lesen ist.
Meinungsverschiedenheiten willkommen
Auch wenn wir nicht wie in China einem «social credit score» unterworfen sind, sind wir besessen davon, zu vergleichen, zu bewerten und einander im schlimmsten Fall den Mund verbieten.
Die beiden Mills hielten das aus mehreren Gründen für einen grossen Fehler: Erstens können wir schlicht nie sicher sein, dass jene, die wir im Unrecht glauben, auch wirklich irren. Liegen wir falsch, verpassen wir die Chance, uns eines Besseren belehren zu lassen, wenn wir ihnen nicht zuhören.
Liegen wir dagegen richtig, versäumen wir es, unsere Argumente weiter zu schärfen. Meinungsverschiedenheiten sind deshalb kein Übel, sondern vielmehr willkommen.
Gefährliche Gleichmacherei
Zweitens droht mit einer «Tyrannei der Mehrheit» eine eingemittete Gesellschaft, die sich bestenfalls durch Mittelmässigkeit auszeichnet. Die Menschen werden zur Herde degradiert, weil keiner auffallen will.
Der Geist wird damit aber «selbst ins Joch gebeugt», wie bei Mill zu lesen ist. «Dass so wenige wagen exzentrisch zu sein, enthüllt die hauptsächliche Gefahr unserer Zeit», diagnostizierte Mill deshalb vor 160 Jahren. Und dürfte weiter recht damit haben.
Denn drittens verunmöglichen Anpassung und Gleichmacherei dem Einzelnen, ein Leben zu führen, das ihm selbst gehört. Wenn nicht mehr «der eigene Charakter, sondern Tradition oder Sitten (...) die Lebensregeln aufstellen», fehlt es an einer der Hauptingredienzen des Glücks.
Ein Loblied auf Exzentriker
Mag es in jungen Jahren auch wichtig sein, in der Gruppe aufzugehen, so wird es im Lauf des Lebens für die meisten immer zentraler, ein eigenes Leben zu leben. Wie sang doch Frank Sinatra 1968 in einer Art Ballade über die Lebensbilanz? «I did it my way.»
«Über die Freiheit» bleibt ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Individualismus, der allen zugesteht, ein eigenes Leben zu leben – das Wohl der anderen jedoch nicht zu missachten.
Die Schrift stimmt ein Hohelied auf den Exzentriker an, der sich als produktiver Störenfried gegen Vermassung und Nivellierung stemmt und dennoch bestrebt ist, niemand anderen an seiner Glücksfindung zu hindern.