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Philosophin Jule Govrin «Gleichheit ist eine soziale Praxis, die wir einüben müssen»

Die Philosophin Jule Govrin fordert: Wir müssen unsere Gesellschaft ganz neu denken. Weg vom Profit, hin zu mehr Gleichheit – nicht als vernunftbasiertes Ideal, sondern als gelebte tägliche Praxis, als Sorge um unsere Mitmenschen. Klingt gut. Aber wie soll das gehen – in Zeiten wie diesen?

Jule Govrin

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Jule Govrin ist Philosophin und politische Autorin. Sie forscht an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Politischer Theorie, Feministischer Philosophie und Ästhetik.

Zu ihren Büchern zählen «Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosophische Studie» (de Gruyter 2020), «Politische Körper. Von Sorge und Solidarität» (Matthes & Seitz 2022), «Begehrenswert. Erotisches Kapital und Authentizität als Ware» (Matthes & Seitz 2023) und «Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit» (Suhrkamp 2024).

SRF: Jule Govrin, in Ihrem neuesten Buch «Universalismus von unten» schreiben Sie, dass soziale Gleichheit nicht von oben, sondern von unten kommen muss. Was heisst das?

Jule Govrin: Gleichheit ist nicht etwas, was von Regierungen verordnet wird. Gleichheit muss erkämpft werden. Es ist etwas, das wir als soziale Praxis zusammen herstellen.

Wie muss man sich diese soziale Praxis vorstellen?

Es geht darum, dass man sich übt und im Kleinen anfängt. Wenn man in einer kapitalistischen Gesellschaft aufwächst, spürt man: Man ist auf sich alleine gestellt, man steht in Konkurrenz zueinander. Das erzeugt Stress und Erschöpfung. Wenn wir uns aber gemeinschaftlich, zum Beispiel als Nachbarschaft organisieren, dann lernen wir, wie wir uns umeinander sorgen können. Gleichheit ist dann nicht eine einzelne Einsicht, sondern eine Praxis.

Frühere Philosophen wie Immanuel Kant oder John Rawls haben das Nachdenken über Gleichheit an der Vernunft festgemacht. Sie aber gehen vom Körper aus. Warum?

Wir alle sind verkörperte Wesen. Dadurch sind wir verwundbar und unweigerlich voneinander abhängig. Dieses Wissen kann dazu führen, dass wir versuchen, uns voneinander abzuschotten. Ich aber würde sagen, dass diese Verwundbarkeit uns auch gleich macht. Unsere Körper sind sehr unterschiedlich, aber dass wir alle verkörperte Wesen sind, ist eine Form von egalitärem Nenner. Entsprechend sollten wir einüben, uns als Gleiche und Freie zu behandeln.

Als Beispiele nennen Sie Nachbarschaftsinitiativen wie Suppenküchen, Reparaturwerkstätten, Gesundheitszentren, etc. Nun sind wir aber keine Kommune der Gleichgesinnten, sondern eine hochgradig differenzierte Gesellschaft. Wie kommen wir vom Lokalen ins Nationale oder sogar Globale?

Eine andere Welt ist möglich, weil sie in Ansätzen immer schon gelebt wurde. Ein Beispiel ist das Konzept der «sorgenden Städte», das aus feministischen Bewegungen entstand und in verschiedensten Städten Anwendung fand, etwa in Barcelona. Dabei wurden Versorgungsstrukturen wie Kinderbetreuung oder Gesundheitsversorgung ausgebaut, aber es ging auch darum, Nachbarschaftsinitiativen aktiv zu stärken. Also genau die Grundstrukturen, dass sich Menschen engagieren und demokratisch einbringen können.

Ein wichtiger Pfeiler Ihrer Theorie ist auch, dass wir die meist unbezahlte Sorgearbeit wie Kinderbetreuung, Haushalt und Krankenpflege neu denken. Sie plädieren beispielsweise für eine 4-Tage-Woche.

Ja, dadurch könnten wir Sorgearbeit und Lohnarbeit besser vereinbaren. Ich würde aber noch weiter gehen und sagen: Es wäre wichtig, dass wir die gewonnene Zeit dafür nutzen, demokratische Sorge zu betreiben.

Was genau meinen Sie?

Offenkundig leben wir in Zeiten instabiler Demokratien. Und Demokratien erodieren auch dann, wenn wir uns nicht einbringen können. Wenn wir die ganze Zeit für Lohn arbeiten, nebenbei die Kinder früher aus der Kita nehmen müssen, vielleicht noch ältere Angehörige versorgen, dann können wir uns nicht gesellschaftspolitisch engagieren.

Das Gespräch führte Yves Bossart.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 28.9.2025, 11:00 Uhr ; 

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