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Neue Studie Pflege, Geld, Alltag – wie solidarisch sind Familien?

Sollten sich Eltern und erwachsene Kinder gegenseitig unterstützen – finanziell oder im Alltag? Eine neue Erhebung des Bundesamts für Statistik zeigt: Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet das – lebt es aber oft nicht.

Warum die familiäre Solidarität an ihre Grenzen stösst, erklärt Simone Gretler Heusser, Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Hochschule Luzern. Sie forscht zu Generationenbeziehungen, Care-Arbeit und sozialer Ungleichheit.

Simone Gretler Heusser

Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Hochschule Luzern

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Simone Gretler Heusser ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Hochschule Luzern. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Generationenverhältnissen, familiärer Unterstützung, Care-Arbeit und sozialer Ungleichheit. Sie analysiert, wie sich gesellschaftliche Erwartungen an Solidarität in Familien mit der gelebten Realität decken – oder auch nicht.

SRF: Laut der BFS-Studie finden 69 Prozent, Kinder sollten ihre Eltern pflegen – aber nur ein Teil macht es. Warum?

Simone Gretler Heusser: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Manche Eltern brauchen gar keine Hilfe. Oft klaffen Idealvorstellung und Realität auseinander – das Verhältnis ist nicht immer spannungsfrei. Und natürlich spielen auch ganz praktische Dinge eine Rolle: Viele können es sich schlicht nicht leisten oder wohnen zu weit weg.

Sind Zeitdruck und Distanz heute stärker als familiäre Werte?

So einfach ist es nicht. Die Vorstellung, man soll sich kümmern, kann sehr wohl bestehen – auch wenn man es nicht umsetzen kann. Die Strukturen müssen stimmen, damit das klappt.

Es ist legitim, wenn jemand sagt: Ich kann das nicht.

Darf man von aussen überhaupt Kritik üben?

Ja, das ist sogar wichtig. Angehörige leisten enorm viel – aber manchmal führt Überforderung zu problematischen Situationen. Es braucht gute Rahmenbedingungen.

Es ist auch Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass alle würdevoll leben können.

Die Spitex ist schon stark, aber sie müsste noch besser mit Angehörigen zusammenspielen. Es ist legitim, wenn jemand sagt: Ich kann das nicht.

Die Studie zeigt auch: 68 Prozent finden, Eltern sollen ihre Kinder finanziell unterstützen – aber nur 56 Prozent sagen dasselbe umgekehrt. Warum?

Diese klare Haltung hat mich überrascht. Es zeigt eine Tendenz: lieber alles in der Familie behalten, sich abgrenzen. Aber ich finde, es ist auch Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass alle würdevoll leben können – nicht nur innerhalb der Familie.

Funktioniert familiäre Solidarität nur in eine Richtung?

Die Verantwortung hat sich verschoben. Früher hatte man Kinder, damit jemand im Alter für einen sorgt. Heute gibt es AHV und Pensionskasse. Aber klar: Wer genug hat, unterstützt – in beide Richtungen. Wer wenig hat, kann das oft nicht. Wohlstand macht einen Unterschied.

Zahlen & Fakten zur familiären Solidarität

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Die Daten stammen aus der Erhebung zu Familien und Generationen 2025 des Bundesamts für Statistik.

Was sagt die Bevölkerung?

  • 69 Prozent finden, dass Kinder ihre Eltern pflegen sollten.
  • 68 Prozent sagen, Eltern sollen ihre erwachsenen Kinder finanziell unterstützen.
  • Nur 56 Prozent befürworten finanzielle Hilfe von Kindern an Eltern.

Was passiert wirklich?

  • Nur 14 Prozent helfen regelmässig einer gesundheitlich eingeschränkten Person.
  • Nur 5 Prozent geben an, ihre Eltern finanziell zu unterstützen.
  • 19 Prozent der Eltern geben ihren erwachsenen Kindern Geld oder Sachwerte.

Mehr Infos zur Studie finden Sie hier.

Wie muss sich unsere Gesellschaft auf das Älterwerden einstellen?

Immer mehr Menschen haben keine Kinder. Trotzdem braucht es generationenübergreifende Unterstützung – etwa bei Einkäufen oder Administrativem. Das darf nicht davon abhängen, ob man Kinder hat. Es braucht gute Sozial- und Ergänzungsleistungen – und eine Aufwertung der Care-Arbeit.

Was bedeutet das konkret?

Wer pflegt, darf nicht aus dem System fallen. Diese Sorgearbeit muss besser anerkannt werden – auch wenn sie nicht klassisch entlohnt wird. Das Potenzial ist riesig: in der Nachbarschaft, bei Partnern und Partnerinnen, bei Bekannten. Die Spitex spielt eine wichtige Rolle – und sollte noch besser mit informellen Helfenden zusammenarbeiten.

Das Gespräch führte Michael Brunner.

Radio SRF 1, Morgengast, 1.7.2025, 7:10 Uhr

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