Ein lauer Sommerabend in Baden AG. Mitten auf einer Wiese, zwischen vier Mehrfamilienhäusern, brutzeln Fleisch und Gemüse auf dem Grill. Auf den vier aneinandergereihten Gartentischen stehen Teller mit Gemüsesticks, Salaten, selbstgemachter Kräuterbutter und anderen Köstlichkeiten. Genauso bunt zusammengemischt, wie die Speisen auf dem Tisch, sind auch wir, die darum herumsitzen.
Eigentlich haben wir nicht viel gemeinsam, ausser dass wir in der gleichen Überbauung wohnen. Doch diese eine Gemeinsamkeit hat gereicht, um aus einer Nachbarschaft eine Freundschaft entstehen zu lassen und das ausgerechnet in einer städtischen Siedlung, wo sich laut einer Studie ein Drittel der Nachbarn nicht einmal kennen.
Auch ich kenne die meisten meiner Nachbarinnen und Nachbarn nicht. Ich weiss nicht, wie sie heissen und würde sie nicht einmal erkennen, wenn ich sie beim Einkaufen treffen würde. Nur zu dieser kleinen Gruppe habe ich den Zugang gefunden. Gerade darum fühlt sich diese Freundschaft für mich wie ein glücklicher Zufall an. Grund genug sich zu fragen: Wie entsteht gute Nachbarschaft und was macht sie aus?
In der gemütlichen Runde auf der Wiese sind sich alle einig: Diese Gemeinschaft ist nicht selbstverständlich. «Das ist definitiv etwas Besonderes», betont Daniela. Sie wohnt direkt neben mir im Erdgeschoss, zusammen mit ihrem Mitbewohner Oliver.
Es ist ein wunderschönes Stück Lebensqualität.
Auch Oliver kommt ins Schwärmen, wenn er über diese Gemeinschaft spricht: «Es ist fast unbeschreiblich. Es ist ein wunderschönes Stück Lebensqualität, das wir hier miteinander teilen dürfen.» Gerade in einer Zeit, wo die Nachrichten mit Berichten über Krisen gefüllt sind, gäbe einem so etwas Hoffnung.
Nachbarschaft als soziale Ressource
Wie wichtig eine gute Nachbarschaft ist, zeige sich häufig in Krisenmomenten, betont die Sozialpsychologin Elianne Albath, die an der Universität Basel forscht. Zuletzt habe man das bei der Coronapandemie beobachten können: «Ein kurzes Gespräch von Balkon zu Balkon oder für die Nachbarin einkaufen – das war in dieser Zeit enorm wertvoll.»
Aber auch im Alltag sei die Nachbarschaft eine wichtige soziale Ressource. «Ein freundlicher Kontakt steigert die Zufriedenheit und beugt Einsamkeit vor», sagt Albath. Vor allem für ältere Menschen sei das ein wichtiger Faktor.
Eine gute Nachbarschaft ist also wichtig. Aber wie definiert sich eine gute Nachbarschaft? Bei den Gesprächen im Garten ist man sich einig: Das, was wir hier haben, das ist gute Nachbarschaft. Aber damit sind wir in der Minderheit. Das zeigen die Zahlen der Schweizer Nachbarschaftsstudie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts aus dem Jahr 2022. In der Studie werden vier Nachbarschaftypen unterschieden.
Meine Nachbarschaft und ich, wir gehören zu den sogenannten Beziehungspflegern. Die Beziehungspflegerinnen wünschen sich ein freundschaftliches, beinahe familiäres Verhältnis in der Nachbarschaft. Jeder und jede soll sich zugehörig und eingebunden fühlen.
Die vier Nachbarschaftstypen
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Bild 1 von 4. Die Beziehungspfleger und Beziehungspflegerinnen wünschen sich ein freundschaftliches Verhältnis in der Nachbarschaft. 14 Prozent zählen zu diesem Typ. Man kennt sich, oft sogar sehr gut. Man möchte nicht nebeneinander leben, sondern miteinander. Die Nachbarschaft ist für sie eine Art Ersatzfamilie und ein Teil ihres Zuhauses. Bildquelle: Nachbarschaftsstudie, Gottlieb Duttweiler Institute.
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Bild 2 von 4. Es ist die anteilsmässig kleinste Gruppe unter den vier Typen. Nur 9 Prozent der Befragten zählen sich zu den Wertorientierten. Ihnen ist es wichtig, dass die Nachbarinnen und Nachbarn gleiche Werte haben und respektvoll miteinander umgehen. Gemeinsame Grillpartys wollen sie lieber nicht. Ein kurzes Gespräch im Treppenhaus reicht völlig aus. Bildquelle: Nachbarschaftsstudie, Gottlieb Duttweiler Institute.
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Bild 3 von 4. Knapp ein Drittel der Befragten gehört zu den Inspirationssuchern und Inspirationssucherinnen. Ihnen sind gemeinsame Werte, Solidarität und Respekt wichtig, Sie gehen offen und direkt auf ihre Nachbarinnen und Nachbarn zu und organisieren gemeinsam Anlässe. Bildquelle: Nachbarschaftsstudie, Gottlieb Duttweiler Institute.
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Bild 4 von 4. Fast die Hälfe (47 Prozent) der Befragten zählt sich zu den Distanzierten. Ihrer Meinung nach gehören die Nachbarinnen und Nachbarn notgedrungen zum alltäglichen Leben dazu. Alles, was über ein grüssendes Wort hinausgeht, wird eher als lästig empfunden. Einzelne Nachbarschaftsanlässe schätzen sie, solange sie nur ab und zu stattfinden. Bildquelle: Nachbarschaftsstudie, Gottlieb Duttweiler Institute.
Fast die Hälfte der Befragten zählt sich jedoch zu den Distanzierten. Für sie ist die Privatsphäre das höchste Gut. Alles mehr, was über ein grüssendes Wort hinausgeht, ist nicht erwünscht. Im Notfall helfen sie laut Studie zwar aus, bieten ihre Hilfe aber nicht aktiv an.
Nachbarschaft hat sich verändert
Vor dreissig oder vierzig Jahren hätte diese Verteilung anders ausgesehen. «Früher waren Nachbarschaften häufig enger. Man hat sich damals mehr gebraucht», erklärt Elianne Albath. Heute seien die Menschen nicht mehr so stark auf Nachbarinnen und Nachbarn angewiesen. «Einkäufe lassen sich nach Hause liefern, dank Kinderkrippen müssen die Nachbarn nicht mehr auf die Kinder aufpassen, soziale Kontakte findet man bequem auch im Internet. »
Ein weiterer Faktor: «Menschen ziehen heutzutage häufiger um als früher», so Albath. «Um eine gute Nachbarschaft aufzubauen, braucht es jedoch Zeit. Bei vielen Wechseln verändert sich die Dynamik.» Als Beispiel nennt Albath Mehrfamilienhäuser. Da fehle bei häufigen Wechseln das Gemeinschaftsgefühl, weil man sich nicht mehr kennt.
Das zeigt sich auch in der Nachbarschaftsstudie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Ältere Menschen kennen ihre Nachbarinnen und Nachbarn durchschnittlich besser, als die jüngeren Generationen.
In der Umfrage bewerteten sie somit das Vertrauensverhältnis zur Nachbarschaft sowie die allgemeine Zufriedenheit im Nachbarschaftsverhältnis besser als die jüngeren Generationen.
Wohnformen für mehr Gemeinschaft
Immer anonymer, immer distanzierter – zu dieser Entwicklung gibt es einen Gegentrend. «Projekte und Wohnformen, die die Gemeinschaft fördern, sind im Trend», sagt Sozialforscherin Elianne Albath. Zu sehen ist das gut am Beispiel der Wohnbaugenossenschaft Domum mit Sitz in Dübendorf ZH. Die Genossenschaft hat sich auf den Bau von Mehrgenerationenhäusern spezialisiert, die gemeinschaftliches Wohnen fördern.
Einerseits werde bei den Mietparteien auf eine gute Durchmischung geachtet, betont Lisa Birrer, Leitung Siedlungsarbeit bei Domum. Gemeinschaftsräume, Gärten, Spielplätze und Fitnessräume sollen zudem das Zusammenleben fördern. Unterstützt werden die Mieterinnen und Mieter dabei von einem Siedlungscoach. «Der Coach hilft dabei, Anlässe zu organisieren und steht auch bei Konfliktsituationen beratend zur Seite», erklärt Birrer.
Das Konzept kommt an: Seit 2019 hat die Genossenschaft 8 solche Überbauungen in der Deutschschweiz eröffnet, 5 weitere sind in Planung.
Es braucht Nachbarschaftshelden
Der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung lebt nicht in Genossenschaftsüberbauungen. Wie baut man ohne diese Unterstützung einen guten Kontakt auf? In diesem Fall helfen «Nachbarschaftshelden». Laut der Nachbarschaftsstudie sind das Personen, die besonders hilfsbereit sind und aktiv auf Menschen zugehen. Solche Helden und Heldinnen sind laut Studie enorm wertvoll und fungieren als Türöffner.
An der Wiesenstrasse in Baden scheint Oliver so ein Nachbarschaftsheld zu sein. Nicht nur mich hat er in die Grillrunde geholt, sondern auch Luisa und Philipp.
Sie sitze häufig auf dem Gartensitzplatz, erzählt Luisa. «Irgendwann kam Oli vorbei und hat mich spontan eingeladen. Ich dachte mir, warum nicht und seither bin ich dabei.» Auch Philipp ist durch Oli dazugestossen. Er arbeitet viel und habe darum wenig Zeit, um Kontakte zu knüpfen. «Darum bin ich dankbar, für Menschen wie Oli, die sich die Zeit dafür nehmen.»
Die Menschen sehnen sich häufig nach mehr Kontakt.
Was aber, wenn es keinen Oliver im Quartier gibt? Diese Frage diskutieren wir in der Runde am Grillabend in Baden. Raphael, der ein paar Häuser weiter wohnt, glaubt, dass viele eigentlich gerne den Kontakt aufbauen würden. «Sie getrauen sich aber nicht, aus Angst die anderen zu stören. Ich glaube, dass häufig beide Seiten so denken.»
Diese These bestätigt auch Elianne Albath: «Häufig ist es so, dass die Menschen zwar gerne ihre Ruhe haben, wenn sie von ihrem Arbeitstag nach Hause kommen. Gleichzeitig sehnen sie sich nach mehr Kontakt.» Es sei ein Zwiespalt. Ebenfalls eine Rolle spiele hier die typisch schweizerische Höflichkeit. Man will niemanden stören.
Wie ist das in meinem Wohnblock – bei den Nachbarinnen und Nachbarn, die nicht bei unserer Grillrunde dabei sind? Sind sie froh, ihre Ruhe zu haben und zufrieden mit einem freundlichen Gruss im Treppenhaus? Oder schauen sie manchmal runter auf die Wiese, wenn wir grillieren und sehnen sich danach, dabei zu sein?
Der erste Schritt braucht Überwindung
Um das herauszufinden, gehe ich in meinem Wohnhaus von Tür zu Tür. Und während ich die Treppe hinaufsteige und an der ersten Türe klingle, spüre ich sie auch: Diese typisch schweizerische Angst, jemandem zu nahe zu treten. Die Angst war jedoch unbegründet, die Reaktionen der Nachbarinnen und Nachbarn freundlich.
Die Umfrage zeigt: Alle sind zufrieden, so wie es ist. Anders ist das bei jener Nachbarin im dritte Stock, die seit 15 Jahren in der Überbauung wohnt. Sie schaue schon manchmal auf die Wiese, wenn wir am grillieren sind. Getraut, dazuzustossen, habe sie sich jedoch bisher nicht. Sofort lade ich sie ein, beim nächsten Mal dabei zu sein. «So herzig, sehr gerne», sagt die Nachbarin sofort. Meine Überwindung hat sich gelohnt: Unsere Grilliergemeinschaft ist um eine Person gewachsen.