Wenn es knallt, sage ich lieber nichts. Ich bin keine besonders streitlustige Person. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Vorsicht. Weil es oft eskaliert. Oder nichts bringt. Weil am Ende nicht Klarheit bleibt, sondern Distanz.
Vielleicht geht es auch anders, dachte ich, als ich Svenja Flasspöhlers neues Buch in die Hände bekam. «Streiten» heisst es – und es ist eine beharrliche Verteidigung des Streitens. Ein Essay gegen die Harmoniesucht, gegen die Digitalempörung, gegen die Angst vor Differenz. Ich habe es gelesen – und bin in den Ring gestiegen.
Warm-up
Aha-Momente zum Aufwärmen: Erst mal lerne ich den Unterschied zwischen Diskurs und Streit. Der Diskurs will Einigung, der Streit will das erst mal nicht. Der Diskurs sucht Harmonie, der Streit hält die Spannung aus. Flasspöhler sagt: Streit verbindet – wenn man ihn ernst meint. Sie verteidigt das Recht auf Widerspruch und warnt vor einer Gesellschaft, die Differenz nicht mehr aushält.
Gesprächsverweigerung, schreibt sie, gefährdet die Demokratie. Der Streit, wenn man ihn richtig führt, soll sie retten. Ein grosses Versprechen – und eine grosse Fallhöhe. Dann versuchen wir jetzt mal, die Spannung auszuhalten.
Runde 1: Streit mit dem Kind
Vier Jahre alt, 102 Zentimeter gross – und 16 Kilogramm Trotz. Draussen ist es: kühl. Drinnen: findet eine Diskussion über ein ärmelloses Elsa-Kleid statt.
Ich: «Es ist kalt.»
Kind: «Ist mir egal.»
Ich: «Du wirst frieren.»
Kind: «Ich will aber!»
Das ist kein Streit im klassischen Sinn. Und doch wird hier etwas verhandelt: Kontrolle, Autonomie, Abgrenzung. «In einer idealen Welt mögen Diskurse herrschaftsfrei sein», schreibt Flasspöhler. «In der Realität aber lassen sich Aggressionen nicht einfach zum Verschwinden bringen. Sie zu balancieren ist die Kunst.»
Ich balanciere – zwischen Argument und Aufgabe. Zwischen dem eigenen Bild von Verantwortung – und dem kleinen Menschen mit grosser Meinung. Beim Streiten mit Kindern geht es selten um das, worüber man spricht. Es geht um alles. Um Freiheit, Angst, Bindung. Und manchmal auch um Glitzer.
Flasspöhler sagt: Streit ist Bindung – solange die Abstossung nicht grösser wird als die Anziehung. Die Anziehung ist stärker. Natürlich. Ich liebe dieses Kind mehr, als ich Worte habe. Sie zieht das Elsa-Kleid an. Ich werfe einen Pullover in den Rucksack – und einen Apfel. Fürs Gefühl, etwas kontrollieren zu können. Das war kein Streit. Das war eine Niederlage in pastellblau – tragbar, aber nicht elegant.
Runde 2: Streit mit mir selbst
Kürzlich in einem Meeting: Ich bin wieder mal zu langsam für den Mut.
Ich: «Sag was.»
Auch ich: «Besser nicht. Bringt doch eh nichts.»
Ich: «Und wenn doch?»
Auch ich: «Dann regnet's einen Shitstorm. Oder schlimmer: Es folgt peinliche Stille.»
Ich: «Also schweigen?»
Auch ich: «Vielleicht.»
Flasspöhler fragt: «Arbeite ich nicht selbst an einer Verengung des Sagbaren mit, wenn ich im entscheidenden Moment die Klappe halte?» Die Frage trifft, sie bleibt hängen. Sie beschreibt das Spannungsfeld zwischen Geltungsdrang und Rückzug, zwischen Mut und Müdigkeit.
Wer sich öffentlich streitet, schreibt Flasspöhler, tut das nicht nur der Sache wegen – auch Eitelkeit ist im Spiel. Gleichzeitig braucht es Schutz. Nicht jede muss immer in die Bresche springen. Aber: Wer sich nie angreifbar macht, wird irgendwann unsichtbar.
Flasspöhler hat sich dem öffentlichen Streit gestellt – etwa mit ihrem Buch «Die potente Frau», in dem sie mitten in der #MeToo-Debatte eine Gegenposition einnahm zur vorherrschenden Erzählung von weiblicher Verletzbarkeit. Oder während der Coronapandemie, als sie politische Massnahmen öffentlich hinterfragte.
Im aktuellen Buch beschreibt sie, was das kostet: Kolleginnen, die sich abwenden. Einschüchterung. Den Reflex, lieber zu schweigen, als erneut zur Zielscheibe zu werden. Und sie merkt: Gerade dort, wo Streit nötig wäre, fehlt oft das Klima, ihn zu führen. Er ist zu laut, zu eng, zu einseitig.
Was sie da beschreibt, ist ein Dilemma. Und ein Aufruf. Nicht jeder muss immer laut sein. Aber wer immer leise bleibt, verändert nichts. Der öffentliche Streit ist anstrengend. Aber ohne ihn gibt es nur Lager – und keine Verbindung mehr zwischen ihnen. Das gilt für Talkshows, aber auch fürs Leben jenseits der Bühne.
Runde 3: Streit mit dem Partner
Er: «Wir wollten doch essen gehen.»
Ich: «Ja. Ich hab reserviert.»
Er: «Ah, super. Ich dachte, wir machen das zusammen.»
Ich: «Haben wir. Ich hab gemacht, du hast gedacht.»
Kein Streit, noch nicht. Nur dieser Moment davor. Wenn es still wird, aber nichts geklärt ist. Es folgt ein typischer Streit über nichts – und über alles. Über Zuständigkeiten, Erwartungen und darüber, wer hier eigentlich «wir» sagt und warum damit fast immer «du» gemeint ist.
Svenja Flasspöhler schreibt: «Intimbeziehungen besitzen ein spezifisches Eskalationspotenzial.» Man teilt so viel, dass schon kleine Abweichungen wie Verrat wirken. Man streitet dann nicht über schmutziges Geschirr oder die Zahnpastatube. Sondern über Fürsorge. Über Anerkennung. Über das Gefühl, ständig mitzudenken – und nie gemeint zu sein.
Ich nehme ihm nichts übel. Ich kenne seine Erschöpfung – und meine. Aber Flasspöhler hat recht: Nähe schützt nicht vor Eskalation. Sie ist oft ihr Auslöser.
An anderer Stelle wandelt sie das berühmte Helmut-Schmidt-Zitat ab: «Eine Liebe, in der nicht gestritten wird, ist keine.» Na dann, denke ich. Läuft bei uns. Der Streit war übrigens nach drei Sätzen vorbei. Ich sage es ja: Meine Streitlust ist überschaubar.
Runde 4: Streit mit dem Buch
Ich: «Boah, was willst du von mir?»
Buch: «Ich will, dass du streitest – um zu bleiben.»
Ich: «Aber ich will nicht jedes Mal verlieren.»
Buch: «Streit ist kein Kampf um Sieg, sondern ein Raum für Differenz.»
Ich: «Und wenn ich lieber schweige?»
Buch: «Gesprächsverweigerung gefährdet die Demokratie.»
Ich: «Du forderst ganz schön viel.»
Buch: «Streiten heisst, die Spannung auszuhalten.»
Ich: «Ich hab zwei kleine Kinder. Ich halte schon genug aus.»
Das Buch argumentiert mit Haltung. Es glaubt an den Streit, als wäre er eine fast verlorene Kulturtechnik – eine, die gerettet werden muss, bevor alles in Wohlverhalten und Kommentarspalten versickert.
Und ja: Ich verstehe jetzt besser, was es meint. Dass Streit nicht immer laut ist, sondern auch leise, manchmal sogar klärend. Dass er nicht zerstören muss, sondern sichtbar machen kann. Und dass es nicht darum geht, zu gewinnen – sondern nicht zu verschwinden.
Ein bisschen aufreibend ist das Buch schon. Aber das will es auch sein. Und manchmal braucht man eben genau das: einen klugen Text, der nicht nett zu einem ist.
Cool-down
Boah, war das anstrengend. Am Ende dieser Woche voller Mini-Dispute bin ich noch immer keine streitlustige Person geworden. Ich werfe noch immer lieber einen Pulli in den Rucksack als eine These in den Raum. Aber ich weiss jetzt: Streit ist kein Defekt. Er ist ein Beziehungstest. Und vielleicht auch ein Erkenntnisverfahren – wenn man ihn nicht sofort als Scheitern verbucht.
«Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen», sagt Flasspöhler. Ein Satz, der bleibt. Unbestritten.