Shlomo Graber ist alt geworden, und er denkt zu wissen, warum: «Ich habe eine Verpflichtung, ich glaube, ich lebe so lange, damit ich erzählen kann.» Noch bis kurz vor seinem Tod hat Shlomo Graber Schulklassen besucht. Als Jahrhundertzeuge berichtet er von einem der grössten Menschheitsverbrechen, dem Holocaust.
Dem Tod entkommen – mehrmals
Als 15-Jähriger wurde er zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. «An der Rampe sah ich am 25. Mai 1944 meine Mutter, den jüngeren Bruder auf dem Arm, und meine Grossmutter in einer Staubwolke verschwinden.» Die Nazis schickten sie in die Gaskammer. «Verabschieden konnte ich mich nicht. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Mutter denke.»
Shlomo und sein Vater sind die Einzigen in seiner Familie, die den Holocaust überleben. Sie überleben Zwangsarbeit, Erniedrigung, Hunger. Die systematische Vernichtung und Qualen des Naziterrors.
Gleich mehrmals entkommt Shlomo Graber knapp dem Tod. Zum Beispiel, als ein SS-Mann eine Gewichtskontrolle durchführt, um die Leistungsfähigkeit der Gefangenen zu kontrollieren.
Wer unter 30 Kilogramm wiegt, den schicken die Nazis in die Gaskammern. Shlomo wiegt nur noch 29 Kilogramm, sein Körper ist ausgemergelt von Zwangsarbeit und Hunger. Die Nazis sortieren ihn und zwölf weitere junge Männer aus. Auf dem Weg in die Gaskammer sieht Shlomo Graber, wie ein SS-Scharführer einen Tisch auf den Schultern trägt. Instinktiv geht er hin, hilft ihm beim Tragen. Es ist seine Rettung.
Am 8. Mai 1945 werden Shlomo und sein Vater befreit. Er hat die Bilder noch genau im Kopf: «Wir sahen, wie russische Soldaten die Stacheldrahtzäune durchschnitten. Aus Dank überhäuften wir sie mit Küssen.» Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass er weint.
In der Schweiz findet er die Liebe
Nach dem Krieg zieht Shlomo Graber nach Isreal, dient in der Armee und gründet eine Familie. Als Inhaber einer Elektrofirma lernt er auf einer Geschäftsreise nach Basel seine Frau Myrtha kennen. 1989 zieht er zu ihr in die Schweiz.
In Basel ist Shlomo als Kunstmaler aktiv. Sein Pinselstrich ist lebhaft, die Bilder sind heiter, farbenfroh. Viele hängen in seiner Galerie unweit des Basler Spalentors.
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Bild 1 von 4. Shlomo Graber machte sich nicht nur als Referent einen Namen – sondern vor allem auch als Kunstmaler. Bildquelle: KEYSTONE/Georgios Kefalas.
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Bild 2 von 4. Bis vor Kurzem war er fast täglich in seinem Atelier nahe dem Basler Spalentor anzutreffen. (Aufnahme aus 2016). Bildquelle: KEYSTONE/Georgios Kefalas.
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Bild 3 von 4. Shlomo Graber mit seinem ersten Buch «Schlajme – Von Ungarn durch Auschwitz-Birkenau, Fünfteichen und Görlitz nach Israel – Jüdische Familiengeschichte 1859–2001». Bildquelle: KEYSTONE/Georgios Kefalas.
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Bild 4 von 4. Seine Bücher fanden auch bei jungen Menschen Anklang – regelmässig hielt er Vorträge, Lesungen und Signierstunden an Schweizer Gymnasien. Bildquelle: KEYSTONE/Georgios Kefalas.
Lange schweigt er über seine Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg – bis 2001. Er beginnt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. 2015 erscheint seine Biografie mit dem Titel «Denn die Liebe ist stärker als Hass».
Es waren die letzten Worte seiner Mutter. Für Shlomo Graber sind sie zum Leitsatz seines Lebens geworden: «Sei stark, mein Junge, und lass keinen Hass in dein Herz. Liebe ist stärker als Hass. Vergiss das nie.» Eine Botschaft, die er unermüdlich vorgelebt hat und die ihm wohl geholfen hat, in sein Leben zurückzufinden.