Laut der UNO gibt es derzeit weltweit 120 ungelöste Kriege – von den meisten davon hört man bei uns kaum etwas. In der Ukraine tobt seit dreieinhalb Jahren ein Krieg, Gaza hungert. Dazu kommen Machtpolitik, autoritäre Regime und erratische Zollpolitik. Sicherheitspolitik-Experte Carlo Masala sieht uns mitten in einem globalen Machtumbruch – dessen Ausgang völlig offen ist.
SRF: Im Januar haben Wissenschaftler die sogenannte Weltuntergangsuhr neu gestellt. Symbolisch gesehen stünden wir 89 Sekunden vor Mitternacht. So nahe an einer Katastrophe waren wir seit der Erfindung dieser Uhr noch nie. Was sagen Sie dazu?
Carlo Masala: Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Auseinandersetzung ist relativ gering, weil allen bewusst ist, was das bedeuten würde. Aber in den letzten sechs Jahren erwacht man fast monatlich mit dem Gefühl, ein Jahrhundertereignis sei geschehen. Wir leben in Übergangszeiten – und niemand weiss, wohin diese führen werden.
Was hat sich geändert?
Wir erleben die Erosion alter Fundamente – vor allem der liberalen Weltordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet hat. Im Zentrum standen internationale Organisationen wie die UNO, das Völkerrecht hatte eine bestimmte Bedeutung und Grossmächte bemühten sich darum, regionale Konflikte zu stabilisieren. Heute erleben wir eine Machtübergangsphase von einem von den USA dominierten, internationalen System, zu einer neuen Weltordnung, von der unklar ist, wie sie aussehen wird.
Die russische Aggression gegen die Ukraine ist ein Weltordnungskonflikt. Dessen Ausgang wird massgeblich mitbestimmen, wie die zukünftige Ordnung aussieht.
Sie sagten in einem Interview, der Ukrainekrieg sei ein postmoderner Weltkrieg. Was meinen Sie damit?
Die russische Aggression gegen die Ukraine ist ein Weltordnungskonflikt. Vom Ausgang dieses Krieges wird massgeblich mitbestimmt werden, wie die zukünftige Ordnung aussieht. Bemerkenswert ist: Sieben von neun Nuklearmächten sind involviert. Wir haben Frankreich, Grossbritannien und die USA auf der einen Seite – auf der anderen Russland, Nordkorea (das sogar Soldaten entsendet), China (das Russland politisch, ökonomisch und technologisch unterstützt), sowie Indien (das mit Öl- und Gaskäufen Geld in die russische Kriegskasse spült). Das ist ein neues Phänomen.
Putin sieht im Zusammenbruch der Sowjetunion eine der grössten Katastrophen des 20. Jahrhunderts, er möchte Russland zu alter Grösse verhelfen. Sie und andere sprechen von neoimperialen Interessen des Landes.
Russische Staatsvertreter sprechen der Ukraine ihre Existenzberechtigung ab – das ist Imperialismus pur.
Ich glaube nicht, dass Russland eine klassische territoriale Expansion anstrebt.
Es bleibt nicht bei der Ukraine: Ein russischer Aussenminister schreibt Vorworte für Bücher, in denen selbst Lettland die Existenz abgesprochen wird, es gibt Provokationen gegenüber Estland. Ich glaube nicht, dass Russland eine klassische territoriale Expansion anstrebt. Aber Russland möchte diese Staaten wieder unter politischen und ökonomischen Einfluss bringen. Moskau fordert von der NATO und den USA eine Rückabwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf den Stand von 1997. Das würde bedeuten: sämtliche amerikanischen Truppen raus aus dem Baltikum, aus Polen, aus Rumänien.
Was ist nötig, damit wir wieder etwas mehr Hoffnung haben können?
Für uns in Europa ist es wichtig, dass die europäischen Gesellschaften den Selbstbehauptungswillen wiederentdecken – den Selbstbehauptungswillen als Demokratien. Da bin ich relativ optimistisch, denn im 20. Jahrhundert waren es Demokratien, die die zwei grössten Herausforderungen besiegt haben: den Faschismus und den Kommunismus.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.