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Der Turban – eine verwickelte Geschichte
Aus Perspektiven vom 11.03.2023. Bild: SRF
abspielen. Laufzeit 29 Minuten 1 Sekunde.
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Sichtbarer Glaube Warum irritieren Kruzifix, Kippa und Co.?

Wer in der Schweiz Kopftuch, Kippa oder Turban trägt, fällt auf – und erlebt oft Diskriminierung. Warum Menschen dennoch religiöse Kleidung tragen und warum sich die säkulare Gesellschaft damit schwertut.

«Pinguin» wird der römisch-katholischen Nonne auf der Strasse hinterhergerufen. Der Sikh mit Turban wird am Flughafen mit einem Taliban verwechselt. Dem orthodoxen Juden wird beim Eishockey-Match ein Bier über den Kopf geleert. Die Muslimin mit Kopftuch findet partout keine Wohnung.

Von derartigen Erfahrungen berichten fast alle Menschen in der Schweiz, die religiöse Kleidung tragen. Mit einer Ausnahme, sagt Jacqueline Grigo, Forscherin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich: Einem buddhistischen Mönch stehen die Menschen sehr positiv gegenüber.

Zwei Nonnen laufen die Strasse entlang, ein Velofahrer kommt ihnen entgegen.
Legende: Ein echter Hingucker: Religiöse Kleidung ist oft schon von weitem zu erkennen. IMAGO Images/ Jochen Eckel

Religion ein Auslaufmodell?

Jacqueline Grigo hat ihre Doktorarbeit zum Thema religiöse Kleidung geschrieben. Sie bestätigt: Religiöse Kleidung irritiert – gerade in europäischen Gesellschaften, die sich selbst als säkular sehen.

Über Jacqueline Grigo

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Die Ethnologin mit Promotion in Religionswissenschaft ist Assoziierte Forscherin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. 2015 veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel «Religiöse Kleidung: Vestimentäre Praxis zwischen Identität und Differenz, Kultur und soziale Praxis»

Grigo ist ausserdem Co-Leiterin des Schweizerischen Agrarmuseum Burgrain.

«In Europa gibt es seit Jahrzehnten eine sogenannte Säkularisierungserwartung», erklärt Grigo. Demnach sei die Religion ein Auslaufmodell. Sie werde demnächst verschwinden oder allenfalls noch im Privaten gelebt.

«In dieser säkularistischen Vorstellung steht die Religion im Widerspruch zu einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft», sagt sie. Gerade wegen dieses Vorurteils, Religion sei rückständig, irritiert auch religiöse Kleidung, als zur Schau gestellte Identifikation mit einer Religion.

Mit Kopftuch in die Disco

Die erwartete Säkularisierung ist bisher nicht eingetreten. Religion ist in den letzten Jahrzehnten auch nicht aus den europäischen Gesellschaften verschwunden – im Gegenteil.

Durch die Zuwanderung sind die Gesellschaften diverser geworden, auch in religiöser Hinsicht. Zudem haben die Medien die Religion für sich entdeckt. Sie wirkt so präsenter, als sie vielleicht ist.

Fünf Geistliche verschiedener Religionen stehen nebeneinander in einer Kirche.
Legende: Aufeinandertreffen verschiedener Religionen im Zürcher Grossmünster. Der buddhistische Dalai Lama (Mitte) ist einer der bekanntesten Träger religiöser Kleidung. KEYSTONE/Ennio Leanza

Menschen, die religiöse Kleidung tragen, spüren all diese Einflüsse. Sie würden oft als frommer, traditioneller, gläubiger gelesen als sie tatsächlich sind, sagt Jacqueline Grigo.

Das führe wiederum dazu, dass sich der Sikh mit Turban, die Muslimin mit Kopftuch oder die orthodoxe Jüdin mit Perücke intensiver mit der eigenen Religion beschäftigen. Die einen radikalisieren sich dabei, die anderen versuchen, die Klischees zu durchbrechen, mit denen sie konfrontiert werden.

«Ich habe eine Muslimin getroffen, die extra mit Kopftuch an Orte ging, an denen man sie nicht erwartet hätte, in die Disco zum Beispiel», erzählt Jacqueline Grigo.

Missbrauch religiöser Kleidung

Wie verhält es sich aber mit dem oft gehörten Vorwurf, religiöse Kleidung diene gerade bei Frauen dazu, ihren Körper zu kontrollieren? Nicht umsonst haben sich beispielsweise die Proteste im Iran an der Kopftuchfrage entzündet.

«Es gibt Untersuchungen, die zeigen: Je strenggläubiger eine religiöse Tradition, desto stärker die Kontrolle des weiblichen Körpers, der weiblichen Sexualität», sagt Jacqueline Grigo. Diese Tendenz gäbe es in verschiedensten Religionen und die Kleidung spiele dabei eine wichtige Rolle.

Grigo betont allerdings, dass diese Kontrolle des weiblichen Körpers nicht der Religion vorbehalten sei: «Die gibt es in den verschiedensten Lebensbereichen.»

Kreativer Umgang mit Vorschriften

Religiöse Kleidung kann also dazu dienen, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig dient sie den Trägerinnen und Trägern als Ausdruck der Identität, ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, aber auch ihrer individuellen Persönlichkeit.

Zwei Kippatragendes Männer von hinten. Die Kippas zeigen Symbole der Young Boys Bern
Legende: Diese beiden Besucher einer Berner Synagoge sind offensichtlich Anhänger des lokalen Fussballvereins. KEYSTONE/Alessandro della Valle

«Das modische Interesse ist auch bei religiöser Kleidung oft sehr gross», sagt die Religionswissenschaftlerin. «Ich habe zum Beispiel jüdisch-orthodoxe Frauen getroffen, die experimentierten und die Grenzen der Kleidervorschriften ausloteten.»

Es gibt bei religiöser Kleidung also durchaus Raum für Individualität. «Und der wird fröhlich ausgenutzt», sagt Ethnologin Jacqueline Grigo.

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Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 11.03.2023, 17:59 Uhr

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