Claudias letzter Witz hat alle geschockt. Nach dem Schock gabs Gelächter, dann Tränen. Claudia liegt auf einem Liegestuhl in ihrem Garten. Die Wolken haben sich verzogen. In wenigen Minuten wird Claudia sterben. Ihre Tochter Celina sitzt neben ihr – jetzt heisst es Abschied nehmen.
Doch wie soll das gehen, sich von einer geliebten Person endgültig zu verabschieden? Und welchen Spruch hat Claudia ganz zum Schluss gebracht? Dazu später.
Spricht die 35-jährige Celina von ihrer Mutter, kommt sie ins Schwärmen. «Sie war eine taffe Frau, der man nichts vormachen konnte.» Sie sei jahrelang Fitnesstrainerin gewesen, «hatte Power ohne Ende», so Celine. Nach Celinas turbulenten Teenagerjahren seien sie fast wie beste Freundinnen gewesen.
Celina und ihre Mutter hatten zwischenzeitlich sogar wieder in einer Tochter-Mutter-WG zusammen gewohnt. Celina war damals 23, ihre Mutter um die 40. «Wir verstanden uns super, gingen auch gemeinsam aus», erzählt Celina. Auch später hatten Mutter und Tochter täglich Kontakt. «Wir schrieben uns jeden Tag per Whatsapp, haben mehrmals pro Woche telefoniert.»
Dem Leben in der Schweiz auf der Spur - der Podcast «Input» liefert jede Woche eine Reportage zu den Themen, die Euch bewegen.
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
Mit Mitte 40 hatte die Mutter von Celina plötzlich Mühe beim Gehen. Diagnose: Chorea Huntington. Eine unheilbare, tödliche Hirnkrankheit. Der Bereich des Hirns, der für die Muskelsteuerung und für grundlegende mentale Funktionen wichtig ist, wird angegriffen.
Die Folgen dieser Krankheit waren der Familie bestens bekannt. Bereits die Grossmutter von Celina litt an Chorea Huntington. Die letzten zehn Jahre sei die Grossmutter im Heim und komplett unselbstständig gewesen, so Celina. Etwas, das Celinas Mutter unter keinen Umständen wollte. «Im Witz sagte sie jeweils, dass ich ihr dann lieber ein Kissen aufs Gesicht drücken solle», erzählt Celina.
Nach der Diagnose habe sich ihre Mutter rasch bei der Sterbehilfsorganisation Exit angemeldet. In den darauffolgenden zehn Jahren hat sich der Zustand von Celinas Mutter immer weiter verschlechtert. Erst waren Stöcke nötig, dann ein Rollator und schliesslich ein Rollstuhl: Hände, Arme und Beine haben sich immer mehr verkrampft.
Wir gingen, um uns zu verabschieden, aber wie macht man das konkret?
Es ist Freitag, als der Anruf kommt. «Meine Mutter sagte mir am Telefon: ‹Celina, ich habe Exit angerufen. Am Mittwoch gehe ich.›» Celina und ihr Bruder ziehen am nächsten Tag bei ihrer Mutter ein. Diese wohnt mit ihrem neuen Mann in Biberist SO. «Für uns war klar, dass wir uns für die letzten Tage bei Mami einquartieren», sagt Celina.
Quasi eine Abschieds-Wohngemeinschaft. «Klar, wir gingen, um uns zu verabschieden, aber wie macht man das konkret?»
Techno, Tränen und Trauer
Celina und ihr Bruder passen sich dem Rhythmus ihrer Mutter an. Sie habe nicht mehr viel Energie gehabt. «Manchmal sind wir einfach zu dritt im Bett gelegen und hielten uns im Arm.»
Neben Tränen und Stille gibt es aber auch heitere Momente in dieser Abschieds-WG: «Wir haben viel geredet, viel gelacht und oft und laut die Lieblingsmusik unserer Mutter gehört – Techno.»
Dass die Mutter von Celina auch in dieser Zeit des Abschieds noch für Spässe zu haben ist, zeigt ein Video von damals. Die Mutter von Celina sitzt am Küchentisch. Das Gesicht eingefallen, die grauen Haare kurz geschnitten. Die Mutter wendet sich im Video an ihre beiden Schwiegertöchter. Also an die Partnerin von Celina und an die Partnerin ihres Sohnes.
«Mein letzter Wunsch an euch ist, dass die Trauerverarbeitung meiner Kinder so aussieht, dass sie ein Jahr lang mindestens einmal die Woche gemeinsam ausgehen und saufen können.»
Auf dem Auftragsschein des Krematoriums stand der Name meiner Mutter drauf, obwohl sie noch lebte.
Der Schalk in ihren Augen zeigt, dass es mit einem Augenzwinkern gemeint ist. Aber die Botschaft ist echt: «Nicht vergessen, Trauerverarbeitung ist wichtig», sagt Claudia und schickt einen Kuss in die Kamera. Je näher der Todestag kam, desto ruhiger sei ihre Mutter geworden, sagt Celina. «Der letzte Sonntag, der letzte Montag. Es wurde klar: Es geht dem Ende entgegen.»
Die Tochter als Bestatterin
Celina arbeitet seit knapp vier Jahren als Bestatterin. Der Wunsch ihrer Mutter war es, dass sie von ihrer Tochter bestattet wird. Für die letzte Nacht, vor dem Tod ihrer Mutter, geht Celina deshalb nochmal zurück nach Zürich. Sie muss den Leichenwagen und den Sarg holen. Als sie im Krematorium den Auftragsschein entgegennimmt, bricht sie zusammen. «Dort stand der Namen meiner Mutter drauf, obwohl sie noch lebte. Das war crazy.»
Mittwoch, der 26. Juli 2023: Der Tag, an dem Celinas Mutter stirbt. In der Nacht hat es geregnet. Um 9:00 Uhr parkiert Celina den Leichenwagen vor dem Haus ihrer Mutter – wie abgemacht so, dass ihre Mutter ihn nicht sieht.
Für Celina fühlt sich dieser Tag an, wie in Watte gepackt. Eine andächtige Ruhe und das Bewusstsein, dass es nun zu Ende geht. «Du gehst zum letzten Mal zur Toilette, isst zum letzten Mal eine Bündner Nusstorte, der letzte Kaffee.» Am Vormittag habe sich die Mutter mehrmals bei ihr entschuldigt, erzählt Celina. «Sie sagte mir: ‹Sei mir nicht böse, ich wollte eigentlich noch länger für dich da sein.›»
Um 13:45 Uhr klingelt der Mitarbeiter von Exit. Danach werden die letzten Formalitäten erledigt, schriftlich festgehalten, wer alles vor Ort ist. Etwas später kommt der Arzt, der das tödliche Mittel dabei hat. «Dieser hat die Stimmung noch einmal aufgelockert», erzählt Celina: «Er konnte Mami sehr gut abholen.»
Claudia ist 56 als sie sich mit Sterbehilfe das Leben nimmt. Ihre Krankheit Chorea Huntington ist schon weit vorangeschritten. Sie liegt oft nur noch im Bett. Mental ist sie aber voll da. Ihr Wunsch ist es, im Garten zu sterben.
Celinas Mutter wird ein letztes Mal in einen Rollstuhl gesetzt. Draussen unter der Pergola legen sie Celinas Mutter auf einen Liegestuhl. Der Garten, mit einem kleinen Teich, mit Quitten- und Apfelbäumen, strahlt Ruhe aus. Claudia liegt auf dem Liegestuhl und ihre Liebsten versammeln sich um sie: ihr Mann, ihre Tochter und ihr Sohn.
Der Arzt setzt einen Zugang zu Claudias Venen. Wer das tödliche Mittel nicht trinken will, kann es auch intravenös haben. «In diesen letzten Minuten haben wir nicht mehr viel geredet», sagt Celina.
Der letzte Witz auf dem Sterbebett
Claudia bekommt ein Rädchen in die Hand, mit dem sie das tödliche Mittel vom Schlauch in ihre Vene lassen kann. Bevor der Arzt das Mittel in den Schlauch spritzt, fragt er Claudia ein letztes Mal, ob sie das aus freiem Wille mache, ob sie sich immer noch sicher sei.
Claudia fragt mit ernster Miene, ob sie jetzt noch «Nein» sagen könne. Der Arzt und die Angehörigen schauen sich geschockt an. Celina erinnert sich noch sehr genau an diese skurrile Szene: «Nach einer kurzen Pause lachte meine Mutter auf und sagte: ‹Nein Spass, kannst es reinlassen.›»
Nach dem Schock gabs Gelächter, dann Tränen. Das sei typisch für ihre Mutter, der letzte Witz wortwörtlich auf dem Sterbebett, sagt Celina.
Claudia dreht am Rädchen. Es lässt sich nur schwer bewegen. Claudia dreht und dreht, bis das tödliche Mittel in ihre Venen gelangt. Die Minuten danach fühlen sich für ihre Tochter an wie eine Ewigkeit. «Man hat die Vorstellung, das Mittel geht rein und die Person ist sofort tot.»
In der Realität geht es nicht so schnell. Claudia sagt noch: «Ich liebe euch.» Ein paar Augenblicke später sagt sie leise, dass sie müde werde, danach schliesst sie die Augen.
Celina hat die Hand auf der Brust ihrer Mutter. Das Herz schlägt noch immer. «Nach einer gewissen Zeit spürte ich, wie das Herz langsamer wird ‒ bis da kein Herzschlag mehr war.»
Dann kommt die Polizei
Immer, wenn jemand mit Sterbehilfe stirbt, kommt die Polizei. Als Bestatterin hatte Celine schon diverse Fälle mit Sterbehilfe, darum war sie vorbereitet. «Ich habe es schon erlebt, dass plötzlich fünf Polizisten in der Wohnung standen.» Bei ihrer Mutter kommt nur einer.
«Wir haben die Pergola mit Tüchern abgedeckt, weil ich wusste, dass Mami jetzt einer Legalinspektion unterzogen und dafür komplett entkleidet wird.»
Als der Polizist und der aufgebotene Arzt sich verabschieden, schlüpft Celina endgültig in die Rolle der Bestatterin. Sie holt den Sarg und leitet den Mann ihrer Mutter und ihren Bruder an. «Wir wuschen sie und zogen ihr ihren Lieblingstrainer an. Dann betteten wir sie in den Sarg.»
Sie legten Fotos und Blumen in den Sarg. «Es sah wunderschön aus.» Und gleichzeitig sei es auch surreal gewesen, sagt Celina. «Vor einer halben Stunde hat sie noch gelebt und jetzt liegt sie einfach tot in diesem Sarg.»
Mit Techno durch Schwamendingen
Auf dem Weg ins Krematorium in Zürich fährt Celina und ihr Bruder mit dem Leichenwagen extra noch durch Schwamendingen. Ihre Mutter ist dort aufgewachsen und sie hat sich gewünscht, auf ihrer letzten Fahrt noch dort vorbeizufahren. «Dabei haben wir natürlich auch wieder ihren Technosound laufen lassen», so Celina.
Die Kremation haben sie erst fünf Tage später angesetzt. «Diese Tage waren auch noch einmal wichtig, um weiterhin Abschied zu nehmen», sagt Celina. Sie und ihr Bruder waren jeden Tag in der Aufbahrungshalle. «Wir haben dort mit Mami gesprochen, Musik gehört, auch mal ein Bier getrunken.»
Seit dem Tod ihrer Mutter ist nun über ein Jahr vergangen. Der Abschied sei ein langer Prozess gewesen, der lange über die Tage in Biberist oder in der Aufbahrungshalle hinausgegangen sei, so Celina.
Im Nachhinein hätte sie in den letzten Tagen ihrer Mutter lieber mehr Emotionen zugelassen. «Ich habe dort einfach funktioniert und geschaut, dass alles möglichst reibungslos geht.» Die Ohnmacht, die Trauer sei dann erst in den Monaten danach hochgekommen. «Rückblickend hätte ich lieber schon damals meiner Mutter gesagt, dass es mir sehr weh tut, dass sie geht.»
Sich von einer geliebten Person endgültig zu verabschieden. Wie hat das Celina geschafft? Ihre Antwort ist ernüchternd: «Sich von seinem Mami in fünf Tagen endgültig zu verabschieden, das ist unmöglich.» Das sei eine Überforderung für alle.
Viel wichtiger sei, sagt sie, dass man die Zeit mit seinen Liebsten geniesse, wenn sie noch da sind. «Dafür muss man nicht auf einen Unfall oder eine Diagnose warten.»