Dharamsala in Norden Indiens: Ganz oben auf dem Dach der Stadt wird eifrig geprobt. Eine tibetische Schülergruppe tanzt unter freiem Himmel zu einem traditionellen tibetischen Lied. Die Schülerinnen und Schüler wollen den Tanz auf der Geburtstagsfeier des Dalai Lama aufführen.
Sie sind die nächste Generation von Exil-Tibeterinnen und -Tibetern. Von ihnen wird abhängen, ob und wie das Tauziehen um Tibet weitergeführt wird – 75 Jahre, nachdem China in Tibet einmarschiert ist.
Schuldirektor Tsultrim Dorjee schaut den Tänzerinnen und Tänzern lächelnd zu. Der 52-Jährige ist als Direktor des tibetischen Kinderdorfes verantwortlich für die Erziehung der nächsten Generation.
«Vielleicht schaffen wir es, den tibetischen Geist lebendig zu halten», sagt Dorjee. Der Schlüssel sei die Erziehung im Kinderdorf: tibetische Werte, tibetischer Nationalismus, Identität, Sprache, Kultur, tibetische Geschichte – das alles werde den rund 930 Internats-Schülerinnen und -Schülern hier beigebracht.
Auch, wenn diese Kinder später in die Welt ziehen sollten – im Geiste blieben sie immer Tibeterinnen und Tibeter, sagt Dorjee, der selbst als circa 11-Jähriger nach Indien floh und nie wieder zurückgekehrt ist.
Viele ziehen in den Westen
Aber nach fast sieben Jahrzehnten im Exil werde es immer schwieriger, die Exil-Gemeinde zusammenzuhalten. «Viele tibetische Familien ziehen in den Westen», sagt der Schuldirektor, wegen besserer wirtschaftlicher Möglichkeiten.
Die Folgen seien überall spürbar: zu wenig Lehrerinnen, zu wenig Nachwuchs-Mönche, immer weniger Schulkinder. Eigentlich könnte er nach 30 Jahren im Dienst in Pension gehen, sagt Dorjee, aber es werde jede Kraft gebraucht.
Die zweite tibetische Schule in Dharamsala musste bereits schliessen, mangels Nachwuchs. Die Finanzen werden insgesamt knapper: Die US-Regierung hat 22 Millionen Dollar an USAID-Geldern gestrichen – rund die Hälfte des Budgets der Exil-Regierung, von dem auch die Schulen mitfinanziert werden.
Geburtstagsfest in Anspannung
Bis 2008 seien noch viele Kinder aus Tibet gekommen, aber das sei vorbei, sagt der Schuldirektor Tsultrim Dorjee. Inzwischen gebe es keinen einzigen neuen Schüler mehr aus dem von China besetzten Tibet, sagt Dorjee, was viel über die Situation von Tibet aussage. China habe das Land fest in der Hand.
Dass in absehbarer Zeit auch noch der Dalai-Lama sterben könnte, macht viele umso nervöser. Diese Woche wird die hochverehrte Leitfigur der Tibeter 90 Jahre alt. Schon jetzt haben die Feierlichkeiten im Tempel von Dharamsala begonnen.
Der Dalai Lama hat an diesem Morgen zwar sichtbar Mühe, zu seinem Stuhl in der Mitte zu gehen, verfolgt die zweistündige Zeremonie aber aufmerksam. Mitte der Woche hat Seine Heiligkeit entschieden, dass er einen Nachfolger haben wird. Er werde als 15. Dalai Lama wiedergeboren. Zuvor war spekuliert worden, dass die Institution mit seinem Tod zu Ende gehen könnte.
Chinas Dalai-Lama-Pläne
Die politische Verantwortung hatte der Dalai Lama, mit Mönchsname Tenzin Gyatso, schon 2011 auf ein demokratisch gewähltes Parlament von Exil-Tibeterinnen und Tibetern übertragen.
«Um die politische Führung mache ich mir keine Sorgen», sagte Dolma Tsering Teykhang, die einflussreiche Vize-Sprecherin des Exil-Parlaments, am Rande der Zeremonie. Aber die Re-Inkarnation des Dalai Lama, also die spirituelle Nachfolge nach seinem Ableben, sei ein geopolitischer Zankapfel. Der Grund: Das atheistische China versuche, sich nach dem Land Tibet nun auch das Amt des Dalai Lama, also des höchsten Tibeters, unter den Nagel zu reissen – aus politischen Gründen.
«Schlimmstenfalls kann China einen eigenen Dalai Lama ernennen», befürchtet die Grande Dame der tibetischen Exil-Politik. Der Dalai Lama habe aber schon vor Jahren klargestellt, dass er in einem freien Land wiedergeboren werden wolle, was bei China nicht der Fall sei.
Die Suche nach dem Baby beginnt
In tibetischer Tradition wird ein verstorbener Dalai Lama als Baby wiedergeboren. Sobald das Baby gefunden ist, können allerdings viele Jahre vergehen, bis es in tibetischer Tradition erzogen ist und das Amt als neuer Dalai Lama antreten kann. Normalerweise beginnt die Suche nach dem Nachfolger erst nach dem Ableben des alten Amtsinhabers.
In einem Café in Dharamsala bereitet derweil Donkar Tserang einen Redebeitrag für die Geburtstags-Feierlichkeiten vor. Die 27-jährige Exil-Tibeterin hat einen belgischen Pass.
Als Mitglied einer Jugendorganisation versuche sie, in Belgien und Brüssel dafür zu lobbyieren, dass die europäischen Regierungen einen chinesischen Dalai Lama nicht anerkennen, sagt die junge Lehrerin. Der Zusammenhalt der tibetischen Gemeinschaft stehe auf dem Spiel.
Ohne die Leitfigur droht Streit
«Der Dalai Lama ist der Klebstoff, der die Tibeterinnen und Tibeter weltweit zusammenhält», sagt Donkar Tserang. Er sei auch der wichtigste Grund, warum die Welt über Tibet Bescheid wisse. Ohne den Dalai Lama werde es sehr hart – trotz des etablierten Parlaments.
Denn schon jetzt, noch zu Lebzeiten des 14. Dalai Lama, gebe es viel Disharmonie im Parlament – zwischen den drei Regionen Tibets, aber auch um den Kurs im Umgang mit China. Ohne die überragende Leitfigur könnte der Streit bald offen ausbrechen, befürchtet Donkar Tserang. Darum sei es wichtig, seine Nachfolge schnell zu regeln.
Die meisten Schülerinnen und Schüler im tibetischen Kinderdorf in Dharamsala ahnen von all dem nichts. Unter tibetischen Gebetsfahnen studieren sie an diesem Nachmittag konzentriert ihre Tänze ein. Damit es wenigstens an der Geburtstagsfeier Seiner Heiligkeit keine unangenehmen Überraschungen gibt.