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Theologe über Milliardenhype TikTok-Trend #Manifesting: «Das ist unsäglicher Humbug!»

Life-Coaches versprechen in den sozialen Medien Erfolg und Reichtum durch das Konzept des sogenannten «Manifestieren». Die Idee ist einfach: Fest wünschen, immer positiv denken und sich selbst klarmachen, dass man es verdient hat. Dann wird es das Universum für einen richten.

Steckt dahinter nur Hokuspokus – oder vielleicht das Geheimnis kosmischer Kräfte?

Manuel Schmid

Theologe

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Manuel Schmid ist promovierter Theologe und arbeitet als Co-Leiter vom RefLab der reformierten Kirche Zürich. In Podcasts, Blogs oder Vlogs diskutieren er und sein Team mit Gästen über Glaube, Religion und Spiritualität.

SRF: Laut einem Artikel im «National Geographic» hat der Hashtag #Manifesting in den sozialen Medien über 34 Milliarden Aufrufe. Manifestieren ist also aus der Nische der spirituellen Szene in den Mainstream gelangt. Was sagen Sie dazu?

Manuel Schmid: Ich finde es extrem problematisch, gefährlich und besorgniserregend, dass dieses Konzept so beliebt und populär ist. Natürlich kann man Wahrheitsmomente ausmachen. Aber ins Extreme gezogen, wirken sich diese Wahrheitsmomente ganz problematisch aus – für jeden Einzelnen und, wenn das um sich greift, auch für die Gesellschaft. Ich finde diese Ideologie unbarmherzig und überheblich.

Was finden Sie daran denn so gefährlich oder besorgniserregend?

Die ganze – ich sage jetzt Ideologie – ist eine Anleitung zum strategischen Selbstbetrug. Es fördert eine ganz manische Form von Optimismus. Per «Gesetz der Anziehung» zieht man mit negativen Gedanken automatisch negative Ereignisse an. Also darf ich mir keine negativen Gedanken mehr erlauben. Eine solche Vorstellung führt dazu, dass ein grosser Teil der Realität ausgeblendet wird, und das ist psychologisch sehr ungesund.

Über das «Manifestieren» und das Gesetz der Anziehung

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«Du kannst alles haben, was du willst», propagieren junge und hippe Menschen auf TikTok, Instagram und YouTube: das Traumauto, den Traumpartner oder das grosse Geld. Die Idee dahinter ist einfach: stark wünschen, immer positiv denken, Unsicherheiten überwinden und sich sagen, dass man es verdient hat.

Durch Aufschreiben, Affirmationen oder Meditationen soll dieses neu erarbeitete Selbstkonzept verinnerlicht werden.

Ein selbsternannter Manifestier-Coach formuliert es auf YouTube so: «Du siehst in deinem inneren Auge die eine Million, du fühlst sie in deinen Zellen und bist schon glücklich, dass sie da sind. Auf deinem Konto sind zwar 0 Euro, aber du gehst in die Schwingung einer Million. Und wenn du es schaffst, lange genug in dieser Schwingung zu bleiben, muss diese Realität wahr werden. Das ist ein Gesetz.»

Das «Gesetz der Anziehung»

Die Idee ist nicht neu: Die Grundlage vom Manifestieren ist das sogenannte «Gesetz der Anziehung», das besagt: «Gutes zieht Gutes an.»

Die Wurzeln dieser Idee liegen in der «New Thought»-Bewegung des 19. Jahrhunderts. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde das «Gesetz der Anziehung» 2006.

Damals veröffentlichte die australische Autorin Rhonda Byrne das Buch «The Secret». Bis heute wurde es in über 50 Sprachen übersetzt und über 30 Millionen Mal verkauft. Es besagt, dass wir mit unseren Gedanken die Realität formen, denn Gedanken haben eine Frequenz. Und wenn wir auf der gleichen Frequenz sind wie unser Wunsch, dann zieht sich das gegenseitig an.

Sie plädieren also dafür, ein bisschen häufiger unglücklich zu sein?

Absolut. Es ist doch kerngesund, mir in gewissen Zeiten einzugestehen, dass ich todunglücklich bin. Und das zu Recht.

Weil ich vom Schicksal heimgesucht wurde, weil mir jemand Liebes entrissen wurde, weil ich eine niederschmetternde Diagnose bekommen habe. Es ist gesund, diese negativen Gefühle und Gedanken zuzulassen. Wenn man das ablehnt, führt das zu einer problematischen Selbstverleugnung.

Sie sagen auch, Manifestieren sei überheblich. Wie meinen Sie das?

All die Privilegien, die ich als Schweizer habe, mein gesundes Elternhaus, das mich gefördert hat, Freunde, die sich für mich eingesetzt haben, Menschen, die mir Türen geöffnet haben und so weiter.

Wenn alle für ihr eigenes Glück verantwortlich sind, dann sind auch alle für ihr Unglück verantwortlich.

All die Begleitfaktoren, die dazu führen, dass einem etwas Gutes widerfährt, werden ausgeblendet und auf einen einzigen Faktor zurückgeführt: Ich hatte positive Erwartungen und werde nun dafür belohnt.

Und inwiefern ist das Konzept vom Manifestieren unbarmherzig?

Wenn alle für ihr eigenes Glück verantwortlich sind, dann sind auch alle für ihr Unglück verantwortlich: Eine alleinerziehende Mutter, die kämpft, ihre drei Kinder durchzubringen, am Ende des Monats kein Geld mehr hat und im Winter nicht weiss, wie sie die Wohnung heizen soll – die ist einfach selber schuld an ihrer Misere. Die hat die Million Franken nicht erfolgreich manifestiert. Das ist wirklich unsäglicher Humbug!

Sie sagten, dass Manifestieren auch Wahrheitsmomente hat. Welche sind das?

Ich kann dem Grundgedanken natürlich etwas abgewinnen: Denke positiv, weil das Gutes anzieht. Wir nehmen die Welt anders wahr, wenn wir mit einer positiven Erwartungshaltung in den Tag gehen. Wir konzentrieren uns in unserer Wahrnehmung auf das Positive und können am Abend mehr Positives nennen. Das ist aber kein magisches Gesetz der Anziehung. Das hat ganz einfach mit der Wahrnehmungspsychologie des Menschen zu tun.

Das Gespräch führte Mariel Kreis.

Radio SRF 3, Input, 19.11.2023, 20:00 Uhr

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