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Thomas Meyer im Gespräch «Man muss nicht religiös sein, um jüdisch zu sein»

Thomas Meyer hatte mit seinen «Wolkenbruch»-Romanen grossen Erfolg. Seine jüdische Identität bedeutet ihm viel, mit der Religion dagegen kann er nicht viel anfangen. Ein Gespräch mit einem, dessen jüdisches Flämmchen trotzdem lodert.

Thomas Meyer

Schriftsteller

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Thomas Meyer ist ein Schweizer Schriftsteller, Drehbuchautor, Podcaster und Aktionskünstler. 2012 erschien Meyers Debütroman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse».

Der Roman handelt von Liebesnöten eines jungen orthodoxen Juden und kombiniert die Sprachen Deutsch und Jiddisch. Insgesamt stand das Buch 70 Wochen lang auf der offiziellen Schweizer Bestsellerliste.

SRF: Mit «Wolkenbruch» haben Sie ein Buch geschrieben über einen sehr religiösen Juden. Sie selbst sind aber nicht religiös. Hat Sie das Schreiben des Buches der jüdischen Religion nähergebracht?

Thomas Meyer: Es hat mich nicht religiöser gemacht, aber vielleicht hat das jüdische Flämmchen in mir etwas mehr Raum erhalten.

Mit der jüdischen Religion können Sie nicht viel anfangen. Und doch ist das Jüdischsein ein wichtiger Teil Ihrer Identität. Wie kommt das?

Man muss eben nicht religiös sein, um sich dem Judentum zugehörig zu fühlen. Das ist für Aussenstehende oft sehr schwer zu verstehen. Wenn du eine jüdische Mutter hast, ist das eine unumstössliche Tatsache, dass du zu dieser Gruppe gehörst.

Wie wird man Jude oder Jüdin?

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Die Halacha ist das jüdische Religionsrecht. Es besteht aus den 613 Geboten der Tora. Jüdisch ist laut Halacha, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist.

Als Kind konnte ich damit allerdings sehr wenig anfangen, weil das sehr abstrakt ist. Meine Mutter hat mich in die Synagoge mitgenommen, aber das interessierte mich nicht.

Wann wurde Ihre jüdische Identität konkret?

Ich habe bald begriffen, dass ich Teil einer Gemeinschaft bin, die permanent Ausgrenzung erfährt.

Im Pausenhof haben die Klassenkameraden Holocaustwitze gemacht.

Wie hat diese Ausgrenzungserfahrung ausgesehen?

Meine Mutter ging gerne auf den Flohmarkt. Das war für viele der Beweis für die angebliche jüdische Tendenz zum «Händele».

Ein klassisches Vorurteil.

Genau. Solche Bemerkungen habe ich mitgekriegt. Auf dem Pausenhof haben die Klassenkameraden Holocaustwitze gemacht. Ich habe mich angesprochen gefühlt, habe den Schmerz gefühlt. Auch wenn die Gspändli gar nicht wussten, dass ich jüdisch bin.

Das heisst, die jüdische Identität wurde Ihnen von aussen aufgedrängt?

Ein Teil davon. Diese Identität hat viele Aspekte – die Aussensicht ist eine davon. Das zeigt sich auch jetzt gerade wieder, in der Debatte über die jüdisch-orthodoxen Gäste in Davos .

Inwiefern?

Manchen Gästen in Davos wurde vorgeworfen, sich nicht an die Regeln des Anstands zu halten. Ich teile mit diesen Menschen gar nichts. Sie sind mir genauso fremd, wie vielen anderen. Und doch betrifft mich diese Debatte.

In den Online-Kommentaren ist mir etwas sehr Typisches aufgefallen: Wenn jüdische Menschen sich schlecht benehmen – was ja durchaus vorkommt – dann wird das auf ihr Judentum zurückgeführt. Im Sinne von: Logisch benehmen die sich schlecht, es sind ja Juden. Wenn so verallgemeinert wird, geht mich das durchaus etwas an. Weil ich mich angesprochen fühle.

Gibt es neben den Zuschreibungen von aussen auch eine jüdische Identität, die von innen kommt?

Natürlich, vor allem, aber sie ist untrennbar mit der externen verbunden. Die Antisemiten machen einen zum Juden, wie es der Politiker Daniel Cohn-Bendit mal so schön sagte. Wenn die Religion keine Rolle spielt, dann könnte man meinen, dass auch das Judentum keine Rolle spielt. Das ist aber nicht so.

Diese jüdische Gemeinschaft ist gewaltig und tröstlich.

Jüdischsein gehört zur Familiengeschichte. Es heisst, Teil einer Gemeinschaft zu sein, auch wenn dazu Leute gehören, die «gaga» sind. Diese Gemeinschaft ist gewaltig und tröstlich gleichzeitig.

Gehört das Essen auch zur jüdischen Identität?

Oh ja, sehr stark. An Pessach gab’s bei uns immer einen Festschmaus. Oder die Hamantaschen an Purim, der jüdischen Fastnacht, die wir allerdings nicht gefeiert haben. Da hat jede Familie ihr eigenes Rezept. Und jede Familie behauptet, ihr Rezept sei das einzig wahre.

Was feiert man an Pessach und Purim?

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Pessach und Purim gehören zu den wichtigsten Festen im Judentum.

An Pessach wird der Auszug aus Ägypten und damit die Befreiung aus der Sklaverei gefeiert. Im Zentrum steht ein feierliches Mahl, an dem die Geschichte vom Auszug erzählt wird. Die Familie isst ungesäuertes Brot und Speisen wie einen bitteren Salat und Fruchtmus – Speisen, die in der Geschichte vom Auszug aus Ägypten eine spezielle Bedeutung hat. Das ungesäuerte Brot soll daran erinnern, dass die Jüdinnen und Juden Ägypten so schnell verlassen mussten, dass sie keine Zeit hatten, Sauerteig für Brot anzusetzen.

Der Name Pessach kommt vom hebräischen Wort für «vorübergehen» und erinnert daran, dass Gott in Ägypten all jene verschont hat, die ein Lamm geschlachtet und das Blut an den Rahmen der Haustür geschmiert hatten.

Auch Purim erinnert an eine Geschichte aus dem Tanach, der hebräischen Bibel. Und zwar jene vom bösen persischen Minister Haman, der alle Jüdinnen und Juden vernichten wollte. Per Los (hebräisch pur) wollte er den Tag der Vernichtung bestimmen. Es ist also ein Fest der Rettung des jüdischen Volkes und wird entsprechend ausgelassen gefeiert.

Im Talmud heisst es, man solle trinken, bis man nicht mehr zwischen «verflucht sei Haman» (dem Bösewicht) und «gepriesen sei Mordechai» (dem Helden) unterscheiden könne. Purim wird auch als jüdische Fasnacht bezeichnet.

Wer je in Israel war, weiss, wie stark die jüdische Kultur mit dem Essen verbunden ist. Es ist eine vielschichtige, komplexe Angelegenheit.

Die kaum in Worte zu fassen ist?

Richtig. Es ist so schwer zu beschreiben wie ein Geruch.

Was bedeutet es Ihnen, jüdisch zu sein?

Es bedeutet mir, obwohl ich nicht religiös bin, sehr viel. Es bedeutet mir viel, dass diese Gemeinschaft mich nicht loswerden kann und umgekehrt. Es bedeutet mir viel, zu wissen, dass diese Gemeinschaft so lange zurückreicht. Das ist erhebend. Und es bedeutet mir viel, wenn ich in Jerusalem an der Klagemauer stehe. Dann spüre ich diese jahrtausendealte Zugehörigkeit. Darauf möchte ich nicht verzichten.

Das Gespräch führte Nicole Freudiger.

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Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 17.9.2023, 8:30 Uhr ; 

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