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Die jüdischen Gemeinden der Schweiz schrumpfen
Aus Tagesschau vom 24.09.2023.
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Jüdisches Leben in der Schweiz Darum schrumpfen unsere jüdischen Gemeinden

Viele jüdische Kleingemeinden sind überaltert und stehen vor dem Aus. Jüngere Mitglieder wandern nach Zürich ab oder gehen ins Ausland. Andere kehren dem religiösen Judentum den Rücken. Was ist da los?

«In St. Gallen wollten wir den Schlüssel schon rumdrehen und dicht machen», sagt Harry Wiener, der sich seit Jahrzehnten in der Synagoge im Stadtzentrum engagiert. Waren es vor 100 Jahren noch über 1000 Seelen, zählt die Gemeinde heute nur noch 120 Mitglieder. Viele davon sind hochaltrig.

Selbst jetzt an den hohen Feiertagen – zum Beispiel an Jom Kippur – hat die Gemeinde Mühe, die Synagoge voll zu bekommen. Selten kommt die nötige Anzahl von zehn Männern für einen orthodoxen Gottesdienst zusammen.

Bild der St. Galler Synagoge
Legende: Der jahrelange Mitgliederschwund wirft einen Schatten auf die jüdischen Gemeinden der Schweiz – hier die Synagoge in St. Gallen. IMAGO / Daniel Schvarcz

St. Gallen droht dasselbe Schicksal wie so mancher jüdischen Kleingemeinde auf dem Land oder in kleinen Städten: Längst aufgegeben wurden Betsäle in Liestal, Uster oder Montreux. Die Gemeinde in Solothurn scheint nur noch auf dem Papier zu existieren. Die Synagoge in Biel wird nur unregelmässig vom Berner Rabbiner mitbedient. In Delemont steht die Jugendstil-Synagoge seit 20 Jahren leer. Und die ehemaligen «Judendörfer» Endingen und Lengnau AG wirken heute wie Museen.

Darum schrumpfen die jüdischen Gemeinden

Die Gründe für das Schrumpfen von kleinen, orthodox geführten Einheitsgemeinden sind schnell aufgeführt und doch komplex. Es sind drei As, die ihnen zu schaffen machen:

  • Assimilation in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft
  • Auswanderung nach Israel und in die USA
  • Abwanderung nach Genf, Basel und Zürich

Das ist eine «orthodox geführte Einheitsgemeinde»

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Eine jüdische Einheitsgemeinde sammelt alle Jüdinnen und Juden an einem Ort in einer Gemeinde unter orthodoxem Dach – egal ob die Einzelnen orthodox, koscher oder säkular leben. Die sogenannte «Einheitsgemeinde» war – verkürzt gesagt – eine Erfindung des preussischen Staates, um Religion staatlich in den Griff zu bekommen.

Als Konzept bewährte sich die orthodox geführte Einheitsgemeinde dann aber nach der Katastrophe Shoah. Nach 1945 war die Einheitsgemeinde ein Kompromiss für Länder wie Deutschland, Polen und die Schweiz, wo es nur noch sehr wenige Jüdinnen und Juden gab.

In einer orthodox geführten Einheitsgemeinde ist das traditionelle Judentum der kleinste gemeinsame Nenner: Ein orthodoxer Rabbiner steht Gewähr dafür, dass zum Beispiel der Gottesdienst korrekt abgehalten wird oder Ehe-Urkunden und Übertritte zum Judentum international anerkannt werden.

Man kann das Gebilde «Einheitsgemeinde» mit den reformierten Landeskirchen vergleichen: auch sie enthalten ein Spektrum von evangelikaler bis liberaler Frömmigkeit und die Menschen leben in eher lockerer Verbindung mit ihrer Kirche.

Die einst stolze St. Galler Gemeinde ist besonders von der Ab- und Auswanderung betroffen. Am jährlichen Gemeindebrunch auf einem Bauernhof in Bischofszell nehmen nur noch 30 jüdische St. Galler teil.

Die Welt bewegt sich rascher als die Religion

Der ehemalige Gemeindevorstand Harry Wiener beklagt, dass innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine Art Individualismus eingekehrt sei, genau wie in der Mehrheitsgesellschaft. Auch Kirchen und Vereine haben Mühe, Mitglieder und Mitwirkende zu halten. Und: Die Menschen – wie er selbst – seien heute emanzipiert von patriarchaler Religion. Da fällt es schwerer, die alten Traditionen und ihren tiefen mystischen Sinn zu vermitteln.

Aus Solidarität mit seiner jüdischen Gemeinde kommt Harry Wiener zum Gottesdienst, der nur noch zweimal im Monat stattfindet.

Ein grauhaariger Mann lächelt in die Kamera.
Legende: Der 73-jährige Harry Wiener blickt mit Sorge auf die Überalterung seiner Gemeinde. Ihr Aussterben sei womöglich nur noch eine Frage der Zeit. Harry Wiener

Andere haben die Region bereits verlassen, um in Zürich, Genf oder im Ausland Lohn und Brot zu verdienen. Dort finden jüdische Familien zudem ein diverseres jüdisches Angebot: von liberal bis ultraorthodox.

Mehr innerjüdischer Dialog nötig

Um mehrere und diversere Gemeinden gründen zu können, muss man eine gewisse Grösse haben. «Wir sind hier 100 Leute, da können wir nicht drei Gemeinden unterhalten», sagt auch Olaf Ossmann in Winterthur.

Der Jurist ist neu Präsident der jüdischen Gemeinde Winterthur IGW, eine orthodox geführte Einheitsgemeinde. Ossmann warnt eindringlich vor einem Auseinanderdriften und plädiert für mehr innerjüdischen Dialog: «Meine Grossmutter sagte immer: Das grösste Problem, das wir Juden haben können, ist: wenn wir zu wenige sind.»

Die Einheitsgemeinde ist für den Juristen Ossmann nach wie vor ein gutes Konzept für kleine jüdische Gemeinden. Dafür braucht es aber Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Zu Kompromissen seien liberal-religiöse Juden auf der einen Seite und streng religiöse auf der anderen Seite häufig nicht mehr bereit.

Die Gemeinden schwächeln, die Kultur boomt

Der Mitgliederschwund hat jedoch kaum Auswirkung auf das Angebot an jüdischer Kultur hierzulande. Dieses ist – insbesondere in Relation zur recht kleinen Zahl von rund 18'000 jüdischen Menschen in der Schweiz – enorm. Am Europäischen Tag Jüdischer Kultur, jeweils Anfang September, zeigen jüdische Institutionen der Schweiz, was sie zu bieten haben: Konzerte, Filme, Lesungen und Führungen durch Synagogen. Nicht-jüdische Institutionen wie Kirchen, Universitäten und Vereine wirken fleissig mit.

Eine unvollständige Liste jüdischer Kulturangebote in der Schweiz

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  • Tag des Jüdischen Buches in Zürich
  • Jüdisches Filmfestival Seret
  • Jüdischer Kunstverein Omanut
  • Filmabende des Vereins Seret
  • Mizmorim – Jüdisches Kammermusikfestival Basel
  • Jüdisches Museum der Schweiz
  • Jüdischer Kulturweg Aargau
  • Museum Brunngasse 8 in Zürich
  • Schweizer Klezmerbands
  • Ensembles jüdischer Musik wie Mechaje
  • Judaistik und Jüdische Studien an Schweizer Universitäten und ETH

Die Attraktivität jüdischer Kulturevents hat jedoch kaum Auswirkungen auf die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden. Das Angebot wird zum grössten Teil von interessierten, nicht-jüdischen Menschen wahrgenommen.

In den Ballungszentren ballt sich auch das Judentum

Anders als in ländlichen Regionen gibt es in Basel, Genf und Zürich – mit mehreren Tausend jüdischen Menschen – auch die Möglichkeit zur religiösen Diversifizierung. Neben einer orthodox geführten Einheitsgemeinde gibt es in den Schweizer Grossstädten auch liberal-religiöse und ultraorthodoxe Kleingemeinden.

In liberalen Gemeinden sind Frauen im Gottesdienst gleichberechtigt. Im egalitären Gottesdienst dürfen Frauen ebenso wie Männer mit der Torarolle im Arm tanzen und daraus vorlesen. Auch Rabbinerinnen sind hier im Einsatz.

Eine Rabbinerin trägt die Torarolle
Legende: Esther Berns, die Geschäftsleiterin der «Migwan» in Basel, hält die Torarolle. In dieser Gemeinde dürfen das alle Frauen. SRF

Die Basler Gemeinde «Migwan» (Vielfalt) steht beispielhaft dafür, wie Kleingemeinden dem Mitgliederschwund trotzen: Gleichberechtigung für Frauen und Offenheit für gemischt-religiöse Paare und Familien. Auf diese Gruppen reagierten orthodoxe Einheitsgemeinden in der Vergangenheit nur zögerlich, wodurch viele ihnen über die Jahre hinweg den Rücken kehrten.

Öffnung kommt, aber sehr spät

Mit neuen, dynamischen Rabbinern wie Noam Hertig in Zürich und Moshe Baumel in Basel öffneten sich die orthodox geführte Einheitsgemeinden stärker für nicht-jüdische Familienangehörige.

Eine Lehrkraft zeigt einem Schüler ein hebräisches Bilderbuch
Legende: Der Religionsunterricht an der Basler Einheitsgemeinde IGB ist auch für Kinder mit gemischt-religiösen Eltern offen. SRF

Doch: All diese Öffnungen kommen für viele jüdische Menschen zu spät. Sie haben sich längst abgewandt vom religiösen Judentum. Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden hierzulande lebt säkular.

Zuzug aus dem Ausland reicht nicht

Belebend, in Verfolgungszeiten auch belastend, war von jeher der Zuzug von Juden und Jüdinnen aus dem Ausland. Der wurde ab 1866 möglich: Damals gewährte die Schweiz, als einer der letzten Staaten Europas, Juden Bürgerrechte und volle Niederlassungsfreiheit. Der Zuzug aus dem Ausland wiegt den Mitgliederschwund jedoch nicht auf. Denn: Längst nicht alle Zugezogenen schliessen sich jüdischen Gemeinden hierzulande an.

Kleine Geschichte der Jüdischen Schweiz

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  • 4. Jahrhundert: Ältestes Zeugnis jüdischer Präsenz: Antiker Goldring mit Menora, gefunden in Augusta Raurica; mit den Römern dürften schon früher jüdische Menschen hierhergekommen sein.
  • Beginn 13. Jahrhundert: Mittelalterliche jüdische Gemeinden sind an vielen Schweizer Orten belegt
  • 1491: Pogrome und Ende jüdischer Gemeinden: Ausweisung aller jüdischen Personen aus dem Gebiet der Eidgenossenschaft
  • 17. – 18. Jahrhundert: Jüdische Familien dürfen sich allein in den Surbtaler Judendörfern» Endingen und Lengnau AG dauerhaft niederlassen
  • 1848: Die moderne Bundesverfassung der Schweiz gewährt Juden keine generelle Niederlassungsfreiheit
  • 1866: Niederlassungsfreiheit und Gleichstellung für Juden in der Schweiz. 1874 folgt die Religions- und Kultusfreiheit für Juden in der Eidgenossenschaft
  • 1880er Jahre: Menschen fliehen vor den zaristischen Pogromen aus Osteuropa
  • 1897: Erster Zionistenkongress in Basel
  • 1904: Gründung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG zur politischen Interessensvertretung aller jüdischer Bürger
  • 1917: Erster jüdischer Nationalrat Maurice Goetschel (FDP)
  • Holocaust / Shoah und 2. Weltkrieg: Belastungsprobe für jüdische Gemeinden und Gemeindebund, starkes Engagement des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfe VSFJ.
  • 1966: Das jüdische Museum der Schweiz öffnet in Basel als Privatmuseum, das erste jüdische Museum im deutschsprachigen Raum
  • 1994: Antirassismus-Strafnorm
  • 1996: Der Bundesrat setzt eine unabhängige Expertenkommission ein, die 2002 den «Bergier-Bericht» über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg veröffentlicht
  • 1999: Ruth Dreifuss wird als erste Frau und erste Jüdin Schweizer Bundespräsidentin
  • 2019: Bundesrat beschliesst, dass der Staat den Schutz jüdischer Einrichtungen wie Synagogen (Security) zu gewährleisten und mitzufinanzieren hat
  • 2023: Bundesrat beschliesst eine nationale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus und des Holocausts zu errichten
  • Heute: Rund 18'000 Jüdinnen und Juden leben in der Schweiz, 13'000 vertritt der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG

Das Gemeindesterben – vor allem auf dem Land und in kleinen Städten – wird vorerst kein Ende nehmen. So könnten von den Gemeinden in Biel, Baden oder gar St. Gallen bald nur noch die hübschen Synagogen zeugen.

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