Der Fussballtrainer kommt nach dem Training in die Garderobe und beginnt Emma zu streicheln. «Es war eklig. Ich wollte das nicht. Ich konnte nichts sagen. Er war doch mein Lieblingstrainer», erzählt das Mädchen.
Diese fiktive Geschichte hört gerade der siebenjährige Ben über seine Kopfhörer. Er sitzt an einem runden Tisch. Seine Mutter hört mit. Vor einer Woche hat Ben diese Geschichte zum ersten Mal gehört, hier in der Aula der Lysser Schule Grentschel. Unter der Leitung der Schulsozialarbeiterin hat er mit seiner Schulklasse den Parcours «Mein Körper gehört mir!» besucht. Ein Präventionsangebot gegen sexualisierte Gewalt von der Stiftung Kinderschutz Schweiz.
Heute darf Ben seiner Mutter am Familiennachmittag zeigen, was er gelernt hat an diesem ersten Posten: Schlechte von guten Geheimnissen zu unterscheiden. Die fiktive Emma erzählt weiter: «Der Trainer hat gesagt, dass das unser Geheimnis ist. Ich darf das niemandem erzählen, sonst darf ich nicht mehr ins Training kommen.»
Ben nimmt den Kopfhörer ab und sagt seiner Mutter: «Das ist ein schlechtes Geheimnis.» Er zieht eine schwere Weste aus Blei auf seine Knie und zieht sie dann ächzend an. «Diese Weste zeigt, wie sich ein schweres Geheimnis anfühlt.»
Die meisten Übergriffe finden durch Personen im engen Umfeld statt.
Laut der Stiftung Kinderschutz Schweiz ist jedes siebte Kind von sexualisierter Gewalt betroffen, das sind zwei bis drei Kinder pro Schulklasse. Mädchen sind doppelt so häufig betroffen wie Buben.
Hinzu kommt: «90 Prozent der Tatpersonen sind Männer. Und die meisten Übergriffe finden durch Personen im engen Umfeld statt: Je nach Alter des Kindes zwischen 80 und 90 Prozent», erklärt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt.
Wie kann man damit umgehen? Jeden und jede im nahen Umfeld unter Generalverdacht zu stellen, kann ja nicht die Lösung sein. «Auf keinen Fall», betont Agota Lavoyer, «Angst ist kein guter Begleiter.» In der Prävention gehe es nicht darum, dass man jeden und jede verdächtigt. Es gehe vielmehr darum, mit dem Wissen um die Häufigkeit dieser Übergriffe umzugehen. Und das ist denn auch der erste Schritt der Prävention:
«Wir müssen anerkennen, dass es jedem Kind passieren kann.» Denn gewalttätige Personen kommen dabei aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus. «Wenn wir nicht bereit sind, das anzuerkennen, werden wir auch nicht bereit sein, Prävention zu machen.»
Es ist wichtig, dass die Kinder die richtigen Begriffe kennen, Penis und Vulva. Keine kindlichen, vulgären oder peinlichen.
Als zweiten Schritt der Prävention sieht Agota Lavoyer die Eltern in der Verantwortung, sich selbst zu informieren – über Zahlen, Formen sexualisierter Gewalt oder Täterstrategien.
Täter gehen subtil vor
Denn diese Täterstrategien können subtil sein – und es muss nicht die rohe Gewalt sein, die man sich manchmal vorstellt: «Es kann an einem helllichten Nachmittag beginnen», erklärt Agota Lavoyer. «Der Götti oder der Vater hütet das Kind, im Hintergrund läuft lustige Kindermusik. Er sagt: «Wir geben jetzt meinem Penis einen lustigen Namen und deiner Vulva auch.» Viele Opfer merken sehr lange nicht, dass es sich bei sexualisierter Gewalt tatsächlich um Gewalt handelt.
Die Expertin für sexualisierte Gewalt fügt auch gleich die dritte Präventionsmassnahme an: Eltern müssen ihren Kindern eine Sprache vermitteln, damit diese über ihren Körper sprechen können: «Es ist wichtig, dass die Kinder die richtigen Begriffe kennen, Penis und Vulva. Keine kindlichen, vulgären oder peinlichen.»
Körperteile benennen
Diese Begriffe solle man auch im Alltag ganz selbstverständlich gebrauchen, um den Kindern das Gefühl zu geben: «Über deinen Körper können wir ganz normal reden. Das ist nichts Unangenehmes.»
Körperteile benennen – genau das lernen die sieben- bis neunjährigen Schülerinnen und Schüler auch beim Parcours «Mein Körper gehört mir!» in der Lysser Schule. Der neunjährige Nevin steht gerade vor zwei Pappfiguren, einem Jungen und deinem Mädchen. Etwa 130 Zentimeter gross. Nackt. Er nimmt ein Kärtchen mit dem Begriff «Bein» und befestigt ihn am passenden Ort. Dasselbe macht er mit dem Begriff «Penis».
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Bild 1 von 3. Der Parcours «Mein Körper gehört mir!» ist ein Präventionsangebot gegen sexualisierte Gewalt. Bildquelle: Mariel Kreis.
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Bild 2 von 3. «Ich bin nicht schuld» und «Ich habe das Recht, Nein zu sagen»: Das lernen die Kinder im Parcours. Bildquelle: Mariel Kreis.
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Bild 3 von 3. Auch das Erkennen von Grenzüberschreitungen gehört zum Programm. Bildquelle: Mariel Kreis.
Dann nimmt er ein rotes Smiley in die Hand und klebt es an dieselbe Stelle. «Hier mag ich es nicht, angefasst zu werden.» Er nimmt ein grünes Smiley und klebt es auf den Kopf der Pappfigur. «Hier mag ich es.»
Über sexualisierte Gewalt sprechen
«Der Parcours ist eine gute Sache», sagt Agota Lavoyer, die früher als Schulsozialarbeiterin selbst Schulklassen durch das Programm begleitet hat. Aber die wenigen Lektionen reichten nicht: «Das Thema muss fest im Lehrplan der Schulen verankert sein.»
Kinder müssen zu Hause altersgerecht lernen, welche Formen von sexualisierter Gewalt es gibt.
Als vierten Präventionsschritt für Eltern sollten diese mit ihren Kindern explizit über sexualisierte Gewalt reden – etwas, was der Parcours nicht vollständig leisten kann. Und auch nicht will – weil er die Schüler und Schülerinnen nicht überfordern möchte.
«Kinder müssen zu Hause altersgerecht lernen, welche Formen von sexualisierter Gewalt es gibt, was okay ist und was nicht. Und das nicht einmal, sondern immer wieder», so Lavoyer.
Ein sicherer Raum
Weiss ein Kind, wann die Grenze überschritten ist und hat es eine Sprache, das auch auszusprechen, dann kann es reden, wenn ihm etwas passiert ist. Aber: «Dafür braucht es einen Raum, wo es sich sicher fühlt», erklärt Agota Lavoyer. Das ist die fünfte Schutzmassnahme: Eltern sollten zu Hause einen Raum schaffen, wo sich das Kind getraut zu sprechen. Ein Raum ohne Verurteilung, ein Raum des Vertrauens.
Die Kinder in der Lysser Aula haben sichtlich Spass, sich mit den verschiedenen Botschaften des Parcours zu beschäftigen und sie sind stolz, dass sie ihren Eltern und Geschwistern zeigen können, was sie gelernt haben: Körperteile zu benennen, gute und schlechte Geheimnisse, Gefühle und Berührungen voneinander zu unterscheiden. Nein zu sagen. Selbst wenn es «nur» der nasse Kuss der Grossmutter ist, den ein bestimmtes Kind nicht mag. Und sie lernen – wenn etwas passiert ist: «Du bist nicht schuld.»