Erling Kagge war gerade mal 32 Jahre alt, da segelte er bereits über den Atlantik, erreichte den Nord- und Südpol zu Fuss und erklomm den Mount Everest. Heute, wo er knapp doppelt so alt ist, sucht er keine gefährlichen Gipfel mehr, sondern Herausforderungen im Inneren.
Die Stille und das Gehen sind zu seinen Weggefährten geworden – Themen zweier internationaler Bestseller, in denen der Norweger erkundet, was bleibt, wenn der tägliche Lärm verstummt.
Hart gegen sich selbst
Sein Credo: Man solle sich das Leben bewusst schwieriger machen, als es ist. Nur so können wir unser Potenzial entfalten, Freiheit erfahren und Dankbarkeit lernen. Wer glaube, dass Schmerz nicht zum Leben gehöre, sei naiv.
Kagge findet den Sinn des Lebens in Momenten der Selbstüberwindung: «Wenn du dich nie fürchtest, nie frierst, nie kämpfst – wie willst du dann Freude empfinden?»
Verschmelzen mit der Natur
Bei ihm waren es 58 Tage durch das endlose Weiss der Arktis, 50 Tage allein durch die Antarktis, ohne Funkkontakt, bei minus 50 Grad. In dieser lebensfeindlichen Welt lernte er, dass Schmerz und Schönheit oft zusammenfallen. Und dass man, wenn alles Zivilisatorische abgeschält ist, mehr Tier als Mensch wird, ein Instinktbündel – aber vielleicht genau dann am tiefsten verbunden mit der Natur.
Was für eine dumme Idee, zum Nordpol zu laufen.
Denn im ewigen Weiss spürte er, dass der Körper nicht an der Haut endet – dass Wind, Licht und Kälte Teil von uns werden. In dieser archaischen Lebendigkeit stellte sich eine Präsenz, ein Gefühl für die Existenz ein. Er kam in Kontakt mit einem tiefen, ursprünglichen Teil seines Geistes, den er zuvor nicht kannte. Ohne Kälte gäbe es halt keine Magie, meint er.
Kagge ist ein bescheidener Mensch. Mit seinen Erfolgen prahlt er nicht, für ihn sind sie vielleicht auch innere Notwendigkeit, zumal er mit seinen Expeditionen stets die Anerkennung des Vaters gewinnen wollte. «Ich wollte meinen Vater beeindrucken, in dem ich hungerte, mich in grosse Gefahr begab und wie ein Verrückter fror.»
Sein Vater aber sagte bei Kagges Rückkehr vom Nordpol bloss: «Was für eine dumme Idee, zum Nordpol zu laufen.» Inzwischen sind die beiden gute Freunde.
Finde Deinen Nordpol
Kagge bemüht sich, den Menschen Hinweise für ein glückliches Leben zu geben. Jeder müsse seinen eigenen Nordpol finden, etwa. Oder: Es sei viel schwieriger, unglücklich zu sein, wenn man durch den Wald geht, als wenn man den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzt.
Er selbst lebt in Oslo, umgeben von Kunst, da er ein renommierter Kunstsammler und Verleger wurde. Aber der Vater von drei erwachsenen Töchtern ist auch passioniert, wenn es um die Zukunft des Nordpols geht.
Die Zukunft des Nordpols
Kein Wunder: Das Eis, über das er einst zusammen mit seinem Freund Børge Ousland ging, sieht er heute schmelzen und schwinden und sagt: «Das Wohlergehen des Menschen lässt sich nicht vom Wohlergehen der Natur trennen.»
Seit Jahrhunderten habe der Westen die Vorstellung entwickelt, die Natur «erobert» zu haben – als stünde der Mensch ausserhalb von ihr. «Wir glauben, wir brauchen die Natur nicht mehr. Genau das ist die Wurzel vieler unserer Probleme», sagt er.
Kagge ist überzeugt: Die Klimakrise lässt sich nicht begreifen, solange wir uns als getrennt von der Erde sehen. «Ich hoffe, dass wir wieder lernen, der Stimme von Mutter Erde zuzuhören.»