«Wir werden manchmal auch zu Gentrifizierungszwecken missbraucht», sagt Mona Caro und runzelt wütend die Stirn. Die gebürtige Schweizerin lebt seit 20 Jahren in San Francisco und ist ein grosser Name in der Mural-Szene. Ihre überdimensionalen Bilder zieren unter anderem Häuserwände in den USA, Brasilien, Indien, Taiwan und der Schweiz.
Dem Unkraut ein Denkmal setzen
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Bild 1 von 6. Street Artist Mona Caron huldigt dem Wildwuchs. Das Motiv für das «Eutrochium»-Gebäude in Jersey City bei New York stammt von ihrem Grossvater, der botanischer Illustrator war. Bildquelle: mona.caron.
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Bild 2 von 6. Überhaupt ist Caron äusserst international unterwegs, wie hier in Mumbai. Bildquelle: mona.caron.
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Bild 3 von 6. «Chrottepösche» für einen Wohnblock im schwedischen Göteborg. Bildquelle: mona.caron.
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Bild 4 von 6. Auch in São Paulo ranken sich die Pflanzen der Tessinerin nach oben. Bildquelle: mona.caron.
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Bild 5 von 6. In San Francisco wurde ebenfalls eine Pflanzeninvasion entdeckt. Bildquelle: mona.caron.
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Bild 6 von 6. Eines von Carons «Weeds» ziert die Hauswand eines Brooklyner Gebäudes in New York. Bildquelle: mona.caron.
Mona Caron wurde auch schon als «Artivist» bezeichnet, also als Kunstaktivistin, weil sich in ihren Arbeiten immer auch sozialkritische Komponenten verbergen. In den Anfängen wurde sie in San Francisco oft von Nachbarschaftsverbänden eingeladen, um gemeinschaftsbezogene Wandbilder zu schaffen. «Gemeinschaftsbildung ist mir wichtig», sagt Caron.
Gegen die graue Betonlandschaft – und für den Kunstanspruch
Der «Muralism» der 1920er-Jahre ist ein Ursprung für das, was heute zusammengefasst als Urban Art bezeichnet wird.
Der andere Ursprung: Graffitis aus der Hip-Hop-Kultur, die ab den 1970er-Jahren in den USA entsteht. Die Subkultur will sich klar vom Bürgertum abgrenzen und in ihrem Eigenverständnis sind Graffitis ein Akt der Rebellion gegen den grauen Betonalltag. Über Filme und Musik gelangt Hip-Hop in den 80er-Jahren in die Schweiz. Zürich war dabei ein frühes Zentrum, aber auch andere Städte entwickelten schnell eigene Hip-Hop-Communitys.
Rebellion hat sich auch Harald Naegeli auf die Fahne geschrieben, als er Ende der 1970er-Jahre die Schweiz mit seinen gesprayten Strichfiguren in Aufruhr versetzt. Seine Graffitis sieht er als Kampfansage an den Kapitalismus und sich selbst in der Tradition der Dadaisten.
Doch der Richter kennt kein Pardon und Naegeli wird Mitte der 1980er-Jahre wegen Sachbeschädigung ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt. 2020 verleiht ihm die Stadt Zürich den Kunstpreis.
Mit Urban Art die Marktfähigkeit verbessern
Was als Kritik an Betonlandschaften und Kapitalismus begann, wird heute auch mal ins Gegenteil verkehrt. In den USA würden teilweise Immobilienfirmen ganze Quartiere mit Wandkunst aufwerten, mit der Absicht, die Gegend zu revitalisieren, sagt Mona Caron.
«Aber es kann heikel und problematisch sein, wenn so eine Aktion ohne Sensibilität für die ansässige Bevölkerung durchgeführt wird.» Sie selbst schaue sehr genau hin, wer sie zu welchem Zweck engagieren wolle, sagt Caron. Zumal diese Art von Aufwertung die Gentrifizierung vorantreiben könne.
Der Zusammenhang zwischen Urban Art und Gentrifizierung ist komplex und wird kontrovers diskutiert. Fakt ist, dass Stadtplanerinnen, Quartierentwickler und Architektinnen Urban Art und Kunst am Bau mitdenken.
Auch Investoren haben das Potenzial von Urban Art erkannt. Das zeigt unter anderem ein Eintrag in einem Fachportal für Immobilienwirtschaft: «Für Immobiliengesellschaften und Investoren bietet Urban Art eine attraktive Möglichkeit, den Wert ihrer Objekte zu steigern.»
Chur: Aufwertung und Förderung
Wer durch Chur spaziert, trifft rasch auf eines von 25 grossen Wandbildern. Sie sind während drei Street-Art-Festivals entstanden. Initiiert wurde der Anlass 2018 von Künstler Bane alias Fabian Florin. Banes Wurzeln liegen in der Hip-Hop-Kultur. Heute gehört er schweizweit und international zu den bekanntesten Muralisten.
Street Art an den Wänden von Chur
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Bild 1 von 8. Rosy One bemalte bereits zahlreiche Züge, U-Bahnen und Wände. Heute lebt sie als Illustratorin und selbstständige Künstlerin in Biel. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 2 von 8. Die Wandbilder in Chur sind Hingucker: Hier ein Mural des niederländischen Künstlerduos Telmo Miel – bekannt für beeindruckende Gemälde mit sowohl hyperrealistischen als auch abstrakten Elementen. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 3 von 8. Ontwan ist ein freischaffender Künstler, Illustrator und Designer aus Basel, dessen Stil in der Comic- und Hip-Hop-Kultur verwurzelt ist. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 4 von 8. Die Werke des Luzerners RIPS1 sind geprägt von seiner früh entdeckten Leidenschaft für Graffiti sowie der Schönheit und Vielfalt der Natur. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 5 von 8. SATR lebt und arbeitet in der chinesischen Millionenstadt Guangzhou. Ihre Fading-Technik schafft Konturen und Formen, die die in ihren Werken dargestellten Tiere besonders dynamisch erscheinen lassen. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 6 von 8. Die detailreichen Murals des in Berlin lebenden Künstlers Onur, der schweizerisch-türkische Wurzeln hat, reflektieren subtil drängende Themen. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 7 von 8. Die Zürcher Tattoo-Künstlerin und visuelle Gestalterin Niniganni lässt sich gerne von Gefühlen, der Natur sowie von Märchen und Mythen inspirieren. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
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Bild 8 von 8. KKADEs Stil vereint die Tradition von Schweizer Grafikdesign und Typografie mit Elementen, die im Art Deco verwurzelt sind, sowie der Symbolik der West-Coast-Tattoo-Kultur. Bildquelle: Street Art Festival Chur.
Die Stadt Chur unterstützt das Festival finanziell und Chur Tourismus bietet Street-Art-Touren an. Ja, einerseits gehe es um die Aufwertung der Stadt, sagt Bane. Aber das Hauptanliegen des Festivals sei ein anderes: «Wir wollen eine Plattform für bekannte und unbekannte Künstler und Künstlerinnen bieten und so die Mural-Kultur fördern.»
Wandbilder mit Werbung
Den Spagat zwischen zwei Welten erlebt Bane nicht nur beim Street-Art-Festival. Der freischaffende Künstler ist auch Creative Director bei einer Firma, die handgemachte Werbe-Murals anbietet. Also grosse Wandgemälde, die zuerst als Kunst wahrgenommen werden, aber eine Werbebotschaft enthalten. Aus der Street-Art-Szene gab es dafür auch schon Kritik und Ausverkauf-Vorwürfe.
«Szenen entwickeln sich weiter. Manchmal in verschiedene Richtungen» sagt Bane. Selbst er als gefragter Muralist könne seine Rente nicht nur von der Kunst bezahlen. Ausserdem betreibe seine Firma auch Förderung: «Wir stellen Kunstschaffende zu einem guten Lohn an und unterstützen mit fünf Prozent des Jahresumsatzes Projekte aus dem Bereich Urban Art.»
Murals von Bane
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Bild 1 von 4. Ein Stillleben à la BANE. Bildquelle: Fabian BANE Florin.
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Bild 2 von 4. Scrollen bis tief in die Nacht: Dieses Werk entstand am Mural-Festival in Albaniens Hauptstadt Tirana. Bildquelle: Fabian BANE Florin.
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Bild 3 von 4. Das Mädchen «Olivia» hat eine Vorliebe fürs Skaten. Seit 2011 ziert sie einen Brückenpfeiler bei Paris. Bildquelle: Fabian BANE Florin.
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Bild 4 von 4. Die Wächterin am Mühleturm Chur: Zwei Monate dauerte die Arbeit an der Wächterin mit den drei Leuchtstäben. Bildquelle: Fabian BANE Florin.
Banksy – der totale Ausverkauf
Die Street Art ist nicht die erste Ausdrucksform einer Subkultur, der quasi die Rebellion abhandengekommen ist. Sie ist nicht nur Teil von Unternehmertum, sondern teilweise zur veritablen Cash Cow geworden. Das zeigt das Beispiel Banksy.
Wo heute Banksy draufsteht, damit lässt sich Geld verdienen. Ausstellungen, die nicht vom Künstler autorisiert sind, ziehen von Ort zu Ort und zeigen seine Werke oder Kopien davon gegen Eintrittsgeld. Seine Graffitis werden aus Wänden herausgeschnitten und teuer verkauft oder kommen bei Sotheby's für Millionenbeträge unter den Hammer.
Banksy mags sozialkritisch
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Bild 1 von 5. «We're all in the same boat»: vermutlich ein Banksy-Mural im britischen Ort Lowestoft – und sogleich ein Besuchermagnet. Bildquelle: Reuters / Peter Nicholls.
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Bild 2 von 5. Ein weiteres vermutliches Banksy-Werk, diesmal in Bristol, dem Heimatort des Künstlers. Bildquelle: Reuters / Rebecca Naden.
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Bild 3 von 5. Natürlich ist auch die britische Hauptstadt London voller echter und vermeintlicher Banksys, wie dieses grossflächige Mural. Die Authentizität eines Werks bestätigt Banksy übrigens jeweils auf seinen Social-Media-Accounts. Bildquelle: Reuters / Toby Melville.
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Bild 4 von 5. Ein von einer russischen Attacke zerstörtes Gebäude mit einem Banksy in Irpin, ausserhalb von Kiew. Bildquelle: Reuters / Vladyslav Musiienko.
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Bild 5 von 5. «A Great British Spraycation»: Dieses Urlaubs-Mural aus Lowestoft wurde vom Künstler bereits als echt bestätigt. Bildquelle: Reuters / Peter Nicholls.
Wie lässt sich das mit der DNA von Street Art und mit der sozialkritischen Natur von Banksys Werken vereinen? Wahrscheinlich gar nicht.
Ein Naegeli kommt ins Museum
Auch Harald Naegeli fand seine Werke plötzlich in einem Umfeld wieder, wofür sie anfänglich gar nicht gedacht waren. 2021 will die ETH ihre Tiefgarage sanieren, doch dort hat es gesprayte Strichfiguren von Naegeli.
Aufwendiger Museumstransport
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Bild 1 von 5. Kunst als Hindernis? Ehe die ETH ihre Tiefgarage sanieren konnte, musste zunächst die Kunst auf dem Beton gesichert werden. Bildquelle: Pascal Sigrist.
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Bild 2 von 5. Ein Naegeli kommt ins Museum: 450 Kilogramm wiegt die Platte mit einer Figur von Harald Naegeli. Bildquelle: Manuela Hitz.
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Bild 3 von 5. Da sind Muckis gefragt: Zwei mal drei Meter misst die Betonplatte. Bildquelle: Manuela Hitz.
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Bild 4 von 5. Gerade einmal zwei Zentimeter Spielraum: Mit einem Lastkran wird die Platte in den Ausstellungsraum des Musée Visionnaire gehievt. Bildquelle: Manuela Hitz.
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Bild 5 von 5. Amüsiert, aber auch geehrt: Harald Naegeli betrachtet sein eigenes Graffiti im Museum. Bildquelle: Manuela Hitz.
Die Baukommission veranlasst eine aufwendige Konservierung. Eine der Figuren wird mitsamt Verputz von der Backsteinwand abgeschält und auf eine Platte aufgezogen. Diese wird 2022 im Musée Visionnaire in Zürich im Rahmen einer Ausstellung zu Harald Naegelis Schaffen gezeigt.
Ein Stück Seele verloren – und gewonnen
«Der Street Art kommt ein Stück Seele abhanden, wenn man sie ins Museum steckt», sagt Manuela Hitz, die Leiterin des Musée Visionnaire. Was für den öffentlichen Raum gedacht war und von flüchtiger Natur sein sollte, ist plötzlich nur noch gegen Eintrittsgeld zu sehen und für die Ewigkeit konserviert.
Aber Naegelis Strichfigur habe im Museum auch etwas dazugewonnen, sagt Hitz. «Dank der Konservierung kann sein Kunstwerk auch in 200 Jahren noch betrachtet werden.» Ausserdem helfe der Museumskontext gewissen Menschen, Kunst zu erkennen, die sonst vielleicht einfach als Schmiererei abgetan worden wäre.
Ehrung und Anerkennung
Und was sagte Harald Naegeli zu der Angelegenheit? Er habe sich köstlich amüsiert über den ganzen Sanierungs- und Transportaufwand, erzählt Hitz. Zumal er selbst gerade mal 20 Sekunden gebraucht habe, um seine Figur zu sprayen.
Gleichzeitig sei Naegeli aber auch beeindruckt davon gewesen, wie die Ausstellung im Musée Visionnaire seinen künstlerischen Lebensweg nachzeichnete.
Die Kunstform der Gegensätzlichkeit
Street Art hat sich zu der Kunstform entwickelt, die vielleicht am meisten Gegensätze in sich vereint: Szene und Mainstream, Aufwertung und Ärgernis, Strasse und Auktionshaus, Protest und Profit, Idealismus und Business. Nur eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Street Art ist vergänglich und doch auch gekommen, um zu bleiben.