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Graffitis, Wandbilder und Co. Rebellion war gestern: die neue Rolle der Street Art

Was in den Anfängen als Sachbeschädigung abgetan wurde, steht heute im Museum oder wird zur Aufwertung von Immobilien eingesetzt. Der Street Art ist ein Stück Seele abhandengekommen. Aber sie hat auch dazugewonnen.

«Wir werden manchmal auch zu Gentrifizierungszwecken missbraucht», sagt Mona Caro und runzelt wütend die Stirn. Die gebürtige Schweizerin lebt seit 20 Jahren in San Francisco und ist ein grosser Name in der Mural-Szene. Ihre überdimensionalen Bilder zieren unter anderem Häuserwände in den USA, Brasilien, Indien, Taiwan und der Schweiz.

Dem Unkraut ein Denkmal setzen

Mona Caron wurde auch schon als «Artivist» bezeichnet, also als Kunstaktivistin, weil sich in ihren Arbeiten immer auch sozialkritische Komponenten verbergen. In den Anfängen wurde sie in San Francisco oft von Nachbarschaftsverbänden eingeladen, um gemeinschaftsbezogene Wandbilder zu schaffen. «Gemeinschaftsbildung ist mir wichtig», sagt Caron.

Gegen die graue Betonlandschaft – und für den Kunstanspruch

Der «Muralism» der 1920er-Jahre ist ein Ursprung für das, was heute zusammengefasst als Urban Art bezeichnet wird.

Glossar: Muralism, Street Art, Urban Art

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Muralism ist die Kunstform der grossformatigen Wandbilder. Sie hat ihre Anfänge in den 1920er-Jahren in Mexiko. Die Wandbilder sollten zur Volksbildung beitragen, entsprechend sozialkritisch waren denn auch die Motive – oft zeigten sie das Leben und die sozialen Kämpfe des mexikanischen Volkes.

Der Begriff Street Art wurde ursprünglich für illegale Graffitis verwendet, die der Hip-Hop-Kultur entsprangen.

Urban Art ist ein weiter gefasster Begriff, der sämtliche, meist legalen Kunstformen im öffentlichen Raum umfasst. Dazu gehören nebst Graffitis und Murals auch Installationen, Schablonen- und Kleisterbilder sowie Strickwerk.

Die Begriffe Street Art und Urban Art überschneiden sich und werden oft synonym verwendet.

Der andere Ursprung: Graffitis aus der Hip-Hop-Kultur, die ab den 1970er-Jahren in den USA entsteht. Die Subkultur will sich klar vom Bürgertum abgrenzen und in ihrem Eigenverständnis sind Graffitis ein Akt der Rebellion gegen den grauen Betonalltag. Über Filme und Musik gelangt Hip-Hop in den 80er-Jahren in die Schweiz. Zürich war dabei ein frühes Zentrum, aber auch andere Städte entwickelten schnell eigene Hip-Hop-Communitys.

Rebellion hat sich auch Harald Naegeli auf die Fahne geschrieben, als er Ende der 1970er-Jahre die Schweiz mit seinen gesprayten Strichfiguren in Aufruhr versetzt. Seine Graffitis sieht er als Kampfansage an den Kapitalismus und sich selbst in der Tradition der Dadaisten.

Doch der Richter kennt kein Pardon und Naegeli wird Mitte der 1980er-Jahre wegen Sachbeschädigung ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt. 2020 verleiht ihm die Stadt Zürich den Kunstpreis.

Mit Urban Art die Marktfähigkeit verbessern

Was als Kritik an Betonlandschaften und Kapitalismus begann, wird heute auch mal ins Gegenteil verkehrt. In den USA würden teilweise Immobilienfirmen ganze Quartiere mit Wandkunst aufwerten, mit der Absicht, die Gegend zu revitalisieren, sagt Mona Caron.

«Aber es kann heikel und problematisch sein, wenn so eine Aktion ohne Sensibilität für die ansässige Bevölkerung durchgeführt wird.» Sie selbst schaue sehr genau hin, wer sie zu welchem Zweck engagieren wolle, sagt Caron. Zumal diese Art von Aufwertung die Gentrifizierung vorantreiben könne.

Der Zusammenhang zwischen Urban Art und Gentrifizierung ist komplex und wird kontrovers diskutiert. Fakt ist, dass Stadtplanerinnen, Quartierentwickler und Architektinnen Urban Art und Kunst am Bau mitdenken.

Was ist Kunst am Bau?

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Beim Bau eines Gebäudes muss ein bestimmter Prozentsatz der Baukosten zum Beispiel in Wandbilder, Mosaike, Reliefs, Installationen oder Ähnliches investiert werden. Dadurch wird nicht nur der öffentliche Raum aufgewertet, sondern auch die kulturelle Teilhabe gefördert.

Wer in der Schweiz einen grossen Bauauftrag bekommen will, muss je nach Kanton zwischen 0.3 und 1 Prozent des Bau-Etats für Kunst am Bau einrechnen. Die Zahlen fussen auf einer Empfehlung des Bundesamts für Kultur (BAK).

Auch Investoren haben das Potenzial von Urban Art erkannt. Das zeigt unter anderem ein Eintrag in einem Fachportal für Immobilienwirtschaft: «Für Immobiliengesellschaften und Investoren bietet Urban Art eine attraktive Möglichkeit, den Wert ihrer Objekte zu steigern.»

Chur: Aufwertung und Förderung

Wer durch Chur spaziert, trifft rasch auf eines von 25 grossen Wandbildern. Sie sind während drei Street-Art-Festivals entstanden. Initiiert wurde der Anlass 2018 von Künstler Bane alias Fabian Florin. Banes Wurzeln liegen in der Hip-Hop-Kultur. Heute gehört er schweizweit und international zu den bekanntesten Muralisten.

Street Art an den Wänden von Chur

Die Stadt Chur unterstützt das Festival finanziell und Chur Tourismus bietet Street-Art-Touren an. Ja, einerseits gehe es um die Aufwertung der Stadt, sagt Bane. Aber das Hauptanliegen des Festivals sei ein anderes: «Wir wollen eine Plattform für bekannte und unbekannte Künstler und Künstlerinnen bieten und so die Mural-Kultur fördern.»

Wandbilder mit Werbung

Den Spagat zwischen zwei Welten erlebt Bane nicht nur beim Street-Art-Festival. Der freischaffende Künstler ist auch Creative Director bei einer Firma, die handgemachte Werbe-Murals anbietet. Also grosse Wandgemälde, die zuerst als Kunst wahrgenommen werden, aber eine Werbebotschaft enthalten. Aus der Street-Art-Szene gab es dafür auch schon Kritik und Ausverkauf-Vorwürfe.

«Szenen entwickeln sich weiter. Manchmal in verschiedene Richtungen» sagt Bane. Selbst er als gefragter Muralist könne seine Rente nicht nur von der Kunst bezahlen. Ausserdem betreibe seine Firma auch Förderung: «Wir stellen Kunstschaffende zu einem guten Lohn an und unterstützen mit fünf Prozent des Jahresumsatzes Projekte aus dem Bereich Urban Art.»

Murals von Bane

Banksy – der totale Ausverkauf

Die Street Art ist nicht die erste Ausdrucksform einer Subkultur, der quasi die Rebellion abhandengekommen ist. Sie ist nicht nur Teil von Unternehmertum, sondern teilweise zur veritablen Cash Cow geworden. Das zeigt das Beispiel Banksy.

Banksy: schwarzhumorig und sozialkritsch

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In den 1990er-Jahren tauchen die ersten Schablonen-Sprayereien des britischen Künstlers auf. Seine Bilder sind scharfe, oft schwarzhumorige Kommentare zu Themen wie Konsum, Überwachung und soziale Ungleichheit.

Heute ist Banksy weltweit der bekannteste Street Artist, bleibt aber anonym.

Wo heute Banksy draufsteht, damit lässt sich Geld verdienen. Ausstellungen, die nicht vom Künstler autorisiert sind, ziehen von Ort zu Ort und zeigen seine Werke oder Kopien davon gegen Eintrittsgeld. Seine Graffitis werden aus Wänden herausgeschnitten und teuer verkauft oder kommen bei Sotheby's für Millionenbeträge unter den Hammer.

Banksy mags sozialkritisch

Wie lässt sich das mit der DNA von Street Art und mit der sozialkritischen Natur von Banksys Werken vereinen? Wahrscheinlich gar nicht.

Ein Naegeli kommt ins Museum

Auch Harald Naegeli fand seine Werke plötzlich in einem Umfeld wieder, wofür sie anfänglich gar nicht gedacht waren. 2021 will die ETH ihre Tiefgarage sanieren, doch dort hat es gesprayte Strichfiguren von Naegeli.

Aufwendiger Museumstransport

Die Baukommission veranlasst eine aufwendige Konservierung. Eine der Figuren wird mitsamt Verputz von der Backsteinwand abgeschält und auf eine Platte aufgezogen. Diese wird 2022 im Musée Visionnaire in Zürich im Rahmen einer Ausstellung zu Harald Naegelis Schaffen gezeigt.

Ein Stück Seele verloren – und gewonnen

«Der Street Art kommt ein Stück Seele abhanden, wenn man sie ins Museum steckt», sagt Manuela Hitz, die Leiterin des Musée Visionnaire. Was für den öffentlichen Raum gedacht war und von flüchtiger Natur sein sollte, ist plötzlich nur noch gegen Eintrittsgeld zu sehen und für die Ewigkeit konserviert.

Illegale Graffitis können teuer werden

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  • Wer vorsätzlich fremdes Eigentum beschädigt, zerstört oder unbrauchbar macht, macht sich strafbar.
  • Da es sich aber um ein Antragsdelikt handelt, wird die Polizei nur aktiv, wenn Anklage erhoben wird.
  • In der Stadt Zürich werden jährlich im Schnitt 150 Personen wegen Graffitis verurteilt. Es drohen Geldbussen oder Haftstrafen von bis zu drei Jahren.
  • Gemäss Schätzung des Stadtrates kostet die Entfernung von illegalen Graffitis alleine in Zürich jährlich rund zwei Millionen Franken.

Aber Naegelis Strichfigur habe im Museum auch etwas dazugewonnen, sagt Hitz. «Dank der Konservierung kann sein Kunstwerk auch in 200 Jahren noch betrachtet werden.» Ausserdem helfe der Museumskontext gewissen Menschen, Kunst zu erkennen, die sonst vielleicht einfach als Schmiererei abgetan worden wäre.

Ehrung und Anerkennung

Und was sagte Harald Naegeli zu der Angelegenheit? Er habe sich köstlich amüsiert über den ganzen Sanierungs- und Transportaufwand, erzählt Hitz. Zumal er selbst gerade mal 20 Sekunden gebraucht habe, um seine Figur zu sprayen.

Harald Naegeli der eine Strichfigur mit Spraydose sprüht
Legende: Vandalismus für die einen, Kunst für die anderen: Harald Naegeli mit Spraydose am 25. Jahrestag seiner Verhaftung 2004. Keystone / Gaetan Bally

Gleichzeitig sei Naegeli aber auch beeindruckt davon gewesen, wie die Ausstellung im Musée Visionnaire seinen künstlerischen Lebensweg nachzeichnete.

Die Kunstform der Gegensätzlichkeit

Street Art hat sich zu der Kunstform entwickelt, die vielleicht am meisten Gegensätze in sich vereint: Szene und Mainstream, Aufwertung und Ärgernis, Strasse und Auktionshaus, Protest und Profit, Idealismus und Business. Nur eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Street Art ist vergänglich und doch auch gekommen, um zu bleiben.

Radio SRF 2 Kultur, Passage, 15.6.2025, 15:03 Uhr; sten

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