Frauen, Flamingos, Blitze, Fische, Augen und Wanzen – das ist die Welt von Harald Naegeli. Ende der 1970er-Jahre hat er angefangen, diese Motive an Wände zu sprayen: Ein weicher Strich in weniger als einer Minute angebracht. Filigrane Figuren, die um Hausecken blicken, mit Räumen und Orten spielen. Das ist sein Markenzeichen.
Für die Street-Art-Künstlerin und Kunsthistorikerin Ana Vujic ist sein Schaffen eine Inspiration: «Zuerst habe ich die klassische Graffiti-Kunst gekannt, die sich vor allem auf Schrift reduziert. Für mich war das Revolutionäre an Harald Naegeli zu sehen, dass man die Spraydose ganz anders gebrauchen kann.»
Poetische Bildsprache, die sich nicht wegwischen lässt
Statt grossflächig bunte, technisch aufwändige Graffitis zu schaffen, hat Naegeli eine reduzierte, poetisch verspielte Bildsprache entwickelt. Obwohl seine Arbeiten immer wieder weggeputzt wurden, hat er bis ins hohe Alter weitergemacht. 2020 hat ihn die Stadt Zürich überraschenderweise mit dem Kunstpreis geehrt.
Für Ana Vujic ist Naegelis Sicht auf Kunst zentral: «Mich hat er in der Frage beeinflusst, wo Kunst hingehört. Ich glaube, das ist ein wichtiges Thema seiner Werke im öffentlichen Raum. Sind sie Kunst? Sind sie nicht Kunst? Dass etwas in einem Kunsthaus Kunst ist, aber an der Fassade eines Gebäudes als Vandalismus deklariert wird, fand ich spannend.»
Er zeichnet täglich
Mit Graffitis gegen ein institutionelles Kunstverständnis – das ist Naegeli, wie er bekannt ist. Aber er ist nicht nur ein Sprayer, sondern vor allem ein Zeichner.
«Er zeichnet täglich. Er geht in die Natur, nimmt sein Skizzenbuch mit, macht Tier- und Naturbeobachtungen, geht ins Atelier und zeichnet dort. Das ist sein privates Leben», sagt Manuela Hitz, Kuratorin am Zürcher Musée Visionnaire, wo Naegelis zeichnerisches Werk nun erstmals in der Schweiz zu sehen ist.
Seine Zeichnungen haben mit den Graffitis viel gemeinsam. «Er sucht in den Zeichnungen auch die Reduktion – mit wenigen Strichen etwas darzustellen. Ein Gefühl. Eine Bewegung», so Manuela Hitz.
Feine, präzise Striche, einzelne Punkte kommen aufs Papier. Mal dicht beisammen, dann wieder lockerer angeordnet.
Landschaften, die wie Notenpartituren erscheinen
Während des Zeichnens verdichtet sich bei ihm die Komplexität der Natur. So bildet sich die Bewegung eines Vogelschwarms, ein Grasbüschel im Wind, ein zuckender Blitz oder eine kleine Landschaft, die wie eine Notenpartitur aussieht.
Im starren Medium der Zeichnung sucht Naegeli eine Illusion von Bewegung zu erzeugen – mit Bleistift, Kohle und Tusche, auf verschiedenen Papierarten. «Er nimmt Abfälle von Passepartouts, also den Innenteil, den man normalerweise wegwirft. Zum Teil nimmt er auch Blätter von alten Büchern. Das Papier, auf das er zeichnet, hat schon eine Geschichte», sagt Manuela Hitz.
Papier mit Vergangenheit
Wie die Wände, auf die er sprayt, so hat auch das Papier eine Vergangenheit. Seine Zeichnungen weisen damit über das eigentliche Bild hinaus. Das versucht die Ausstellung im Musée Visionnaire aufzunehmen, mit einem Birkenast und kleinen Staffeleien, erklärt Manuela Hitz, denn «in seiner Wohnung hat er einen Birkenast, den er gerettet hat.»
Das sei darum spannend, weil es wie ein Strich im Raum aussieht, von der Natur gemacht. «Es gibt ganz viele Staffeleien. Er liebt es, wenn Zeichnungen nicht an die Wand gedrückt werden, sondern wenn sie mitten im Raum stehen und mit dem Raum spielen», so Manuela Hitz.
Wenn man sich durch die Ausstellung bewegt, sieht man so immer wieder neue Kombinationen von Bildern. Bewegung im Kleinen wie im Grossen, in den Sprayereien wie in den Zeichnungen – und besonders in den Köpfen. Das ist es, was Harald Naegelis Kunst ausmacht.