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SRF-Serie «Neumatt» zeigt das Leben einer Bauernfamilie
Aus 10 vor 10 vom 22.09.2021.
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Landwirtschaft unter Druck Was Kunden wollen, wächst nicht immer auf dem Boden der Tatsachen

Gut aber billig, regional und saisonal, aber das ganze Sortiment das Jahr über. Wie soll das gehen? Bauern und Expertinnen erzählen.

Zeit für ein Interview hat Thomas Wyssa eigentlich nicht. Der Bauer, der im Berner Seeland Gemüse anbaut, soll in zwei Tagen ein Gewächshaus eröffnen. Es werden viele Gäste erwartet.

Wyssa hat einen familiengeführten Grossbetrieb «mit umwelt- und ressourcenschonender Produktion», wie es auf der Website heisst. Der Hof ist mehrfach zertifiziert. 25 Angestellte beschäftigt Wyssa. Jetzt, mitten in der Saison, «sind es insgesamt 80 Menschen», sagt er.

Wir sitzen in einer Garage, die als Aufenthaltsraum fungiert: Bierbänke, löslicher Café auf den Tischen, Besteck und Servietten unweit eines Vorschlaghammers. Auf dem Feldweg herrscht Rushhour. Kurz vor einem Feierabend, der Utopie ist.

älterer Mann mit Schnauz und grünem T-Shirt steht zwischen (erhöhten) Salatköpfen.
Legende: Gemüsebauer Thomas Wyssa produziert in seinem Grossbetrieb Salat in Hydrokulturen. SRF / Miriam Künzli

Bald übernimmt Wyssas Sohn in der vierten Generation den Hof – so wie er ihn von seinem Vater übernommen hat. Der betrieb ihn in den späten 1960er-Jahren als Biohof, aber «das Meiste blieb liegen». Der Vater musste «wieder zurück auf traditionelle Produktion». Die Milchwirtschaft gab der Vater 1968 auf. Thomas Wyssa arbeitet seit 1980 auf dem Hof und kaufte ihn 2005.

Rentabel und ökologisch?

Heute bekomme er für einen Salatkopf ungefähr das, was «mein Vater dafür bekam». Die Kosten aber sind gestiegen.

Er wisse nicht, wie er seinen Saisonniers bessere Löhne zahlen soll. Das sei auch ein Anspruch, dem er gerecht werden wolle. Aber wie? Bessere Löhne bei gleichbleibend geringer Marge gehen nur mit «Massenproduktion und Robotik».

Mann in grünem T-Shirt steigt aus rotem Traktor, dahinten weisses Gewächshaus.
Legende: In wenigen Tagen eröffnet Thomas Wyssa ein neues Gewächshaus. SRF / Miriam Künzli

Wyssa pflanzt Hydrosalat in Rinnen über dem Boden. So kommen nicht nur weniger Schädlinge heran, diese Methode verbrauche auch 70 Prozent weniger Wasser, Dünger, Pestizide und senke Kosten. «Aber zuerst mal muss ich in die Anlage investieren», sagt Wyssa.

Sie bildet ein quasi geschlossenes System, erklärt er: «Das Wasser wird aufgefangen, restliche Nährstoffe werden gemessen und wieder der Pflanze zugeführt. So belastet es die Umwelt nicht.» Das Verfahren wird also auch der Ökologie gerecht.

«Vieles wird aber noch immer in Handarbeit erledigt», sagt Wyssa. Er kombiniert Robotik und Handarbeit, um wirtschaftlich zu überleben.

Salatbeete auf Metallstelzen.
Legende: In seinen Hydrokulturen produziert Thomas Wyssa 1250 Salate pro Tag, 250'000 pro Jahr. SRF / Miriam Künzli

Der Weg in den Verkauf

Wyssa hat jahrelang versucht, mit den grossen Abnehmern in der Schweiz direkt zu verhandeln, ohne wie üblich im Seeland den Weg über den Zwischenhandel zu gehen. Erfolglos. Erst vor sechs Jahren habe es mit einem ausländischen Discounter funktioniert. Die Marge ist so etwas grösser, alle Sorgen sind damit aber nicht weg.

«Wenn Blattläuse in einer Kiste sind, kriege ich nicht die Kiste, sondern die ganze Fuhre zurück», erklärt Wyssa: «Blattläuse vermehrten sich pro Tag mit Potenz hoch acht». Da könne er «nur rechtzeitig sprühen».

Er führe genau Protokoll, «wann ich welchen Pflanzenschutz wo versprüht habe, und wie schnell er sich abbaut. Ich werde regelmässig kontrolliert und die Kontrollen sind genau.» Aber in vielen Köpfen sei die Vorstellung, es gehe ohne Sprühen. Das sei nicht zu machen, auch in Biobetrieben werde gesprüht.

Junger Mann und junge Frau vor Pak-Choi-Kisten, Frau spritzt Wasser aus Schlauch über das Gemüse.
Legende: In der Hochsaison arbeiten 80 Menschen auf dem Gemüsehof von Thomas Wyssa. SRF / Miriam Künzli

Immenser wirtschaftlicher Druck

Sandra Contzen, Agrarsoziologin der Berner Fachhochschule, forscht seit Jahren zur Lebens- und Arbeitssituation von Bäuerinnen und Bauern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Armut und die Rolle der Frau in der Landwirtschaft.

Audio
Der Kampf der Bäuerinnen für mehr soziale Sicherheit
aus Treffpunkt vom 14.10.2020. Bild: Keystone
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Im Zuge ihrer Forschungsprojekte führt sie Interviews und hört viele Sorgen und Probleme. Es gebe zwar Bauern, die viel verdienen. Eine Studie zeige aber auch, dass ein Viertel der Bauernbetriebe vom Einkommen her prekär sei: «Dort braucht es wenig und die kippen in die Armut.»

Fehlende Wertschätzung

Bei einer Untersuchung hat Contzen manchmal gedacht: «Das sind moderne Sklaven.» Bäuerinnen und Bauern bekommen vom Zwischenhandel die Setzlinge. Wenn es dann wochenlang regnet und die Leute nicht aufs Feld könne, heisse es beim Abnehmer: «Jetzt brauche ich das nicht mehr, das kannst du schreddern.» So hat es Contzen bei Interviews gehört. «Ich frage mich: Was macht es mit Leuten, wenn ihre Arbeit keinen Sinn macht?»

«Scheidungen, Burn-out, Depressionen, auch Suizide nehmen zu», sagt Contzen. Die Situation sei auch dieses Jahr für viele angespannt bis prekär: «Einige müssen Tiere schlachten, weil sie zu wenig Futter für den Winter haben. Gemüseproduzenten sind dieses Jahr wegen des Wetters sehr unter Druck. Manche Produzenten hören auf, weil sie sagen: ‹Ich halte den Druck nicht mehr aus.›»

Mehr als nur wirtschaftlicher Druck

Wyssa baut auf seinem Hof auf 22 Hektar Gemüse an: 20 Hektar sind Freiland, auf zwei stehen Gewächshäuser oder Tunnels. Einen zusätzlichen Hektar lässt er als Brachland, um die Biodiversität zu erhalten: «Für Gräser, Bienen und alles, was da herumkriecht und fliegt. Im Sommer verstehen wir am Abend unser eigenes Wort nicht vor lauter Grillen.»

Hohe Pflanzen in einem Gewächshaus, dazwischen eine Frau auf einer hochgefahrenen Hebebühne, erntet.
Legende: Robotik und Handarbeit: Im Gewächshaus wird das Gemüse mithilfe einer Hebebühne geerntet. SRF / Miriam Künzli

Bauern gelten aber als ein Hauptgrund für den Rückgang der Biodiversität. Wyssa steuert dem Rückgang entgegen, dennoch hört er Kritik. Vor kurzem habe ihm jemand gesagt: «Ich merke den Rückgang, weil ich weniger tote Viecher auf der Windschutzscheibe habe», und daran seien die Bauern schuld. «Das frustriert», sagt Wyssa.

Es geht auch anders, aber nicht von alleine

Bei Tina Siegenthaler liegt der Fall komplett anders: Sie betreibt zusammen mit ihrem Kollegen Finn Thiele den Fondlihof, einen Bio-Hof in Dietikon, der als Landwirschaftskooperative organisiert ist. Die selbstverwaltete Genossenschaft «ortoloco» betreibt solidarische Landwirtschaft.

Junge Frau mit Brille und Mütze streichelt eine Kuh.
Legende: Auf dem Fondlihof von Tina Siegenthaler teilen sich Produzentinnen und Konsumenten die Verantwortung. SRF / Miriam Künzli

Ausser den beiden arbeiten noch drei Kollegen im sogenannten Gartenteam. Der Hof umfasst 20 Hektar, darauf werden Getreide, Obst und Gemüse angebaut und Rinder sowie zwei Herden Legehennen gehalten.

Sie habe hier «den ganzen Ablauf von der Heu- bis zur Essgabel», sagt Siegenthaler. Die Genossenschafter haben Anteilsscheine und arbeiten mit, säen, ernten: «Wir müssen nicht für den freien Markt produzieren. Da steckt eine ausgeklügelte, nicht ganz einfach umsetzbare Organisation dahinter.»

Von Anfang an gab es die Idee der gelebten Agrarökologie, der gelebten Ernährungssouveränität. «Wir verstehen uns als Modell, um herauszufinden: Wie können Lebensmittel auf eine demokratische Art produziert werden?», erklärt Siegenthaler. Ihr Modell will Antworten auf diese Frage finden.

Totale von einem gemischten Feld, vorne tiefgewachsene Pflanzen, hinten Obstbäume. Im Hintergrund klein eine Stadt.
Legende: Der Bauernhof in Dietikon produziert eine Vielfalt an Produkten – von Eiern bis zu Teekräutern. SRF / Miriam Künzli

Genossenschaft statt Marktwirtschaft

Früher haben auch Siegenthaler und ihr Mitarbeiter Finn Thiele für den freien Markt produziert. Doch dann haben sie mit einer Gemüsekooperative fusioniert, die es auf dem Hof bereits gab.

Sie hätten keine Lust auf Neoliberalismus und Marktwirtschaft mehr gehabt: «Da haben wir dieses Konzept gestartet. Das gibt es schon lange in der Westschweiz, in Japan, den USA.»

Die Genossenschafterinnen und Genossenschaftern beschliessen, was, wie und wie viel angebaut werden soll. Und sie wissen auch, wann ein Erntezeitpunkt realistisch ist.

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Tina Siegenthaler im Gespräch mit Genossenschafterinnen
Aus DOK vom 23.09.2021.
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Sie hätten auch Siegenthalers Lohn beschlossen. Der sei von 1700 Franken für «250 bis 300 Stunden Knochenarbeit pro Monat auf dem freien Markt» auf 4100 Franken für eine 90 Prozentstelle bei 45 Stunden pro Woche gestiegen.

Der Dialog mit den Kunden ist elementar

In einem sind sich Siegenthaler und Wyssa einig: Man müsse erklären und rechtfertigen, was man macht. Siegenthaler sagt: «Es gibt kaum einen Berufszweig, wo so viele unbeteiligte Leute denken, sie könnten mitreden.»

Vier Menschen sitzen vor einer alten Hofwand um einen Tisch, auf Sonnenschutz steht «ortoloco».
Legende: Jede und jeder mit einem Jahresabo bei «ortoloco» verpflichtet sich zur Mitarbeit auf dem Hof. SRF / Miriam Künzli

Sie erzählt als Beispiel: «Wir mussten am Sonntag Mist führen, weil das Wetter nach langer Zeit so gut war, dass es nur dann ging. Eine Frau kam zu mir und sagte: ‹Geht's euch eigentlich noch? Das stinkt bis zu mir.›»

Sie habe beweisen müssen, dass es gut ist, was sie tut: «Erst dann kommt die Wertschätzung zurück.» Auch in der Genossenschaft sei Kommunikation wichtig. Es helfe, zu erklären, warum Früchte mal komische Formen haben oder wenn es wegen Frost weniger gibt.» Thomas Wyssa sagt, viele Bauern hätten zu wenig den Dialog geführt, um Verständnis zu schaffen. Dafür fehlt oft die Zeit.

Die neue SRF-Serie «Neumatt»

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Legende: SRF

«Neumatt» erzählt von Michi Wyss, der als Consultant in Zürich arbeitet. Als sein Vater sich das Leben nimmt, kehrt auf den elterlichen Bauernhof zurück. Zusammen mit seiner Familie muss er sich fragen: Was soll mit der schwer verschuldeten Neumatt geschehen?

Von «Neumatt» werden ab dem 26.9. am Sonntagabend ab 20:05 Uhr jeweils zwei Folgen ausgestrahlt.

Sämtliche Folgen sind ab dem 26.9. um 20:05 Uhr auch auf Play SRF abrufbar.

Zudem stehen alle Folgen bereits ab Samstag, 25.9. auf Play Suisse zur Verfügung.

Klischees und Mythen

Sagt man heute: «Das habe ich im Supermarkt von einem Grossbetrieb gekauft», verbindet sich damit anderes, als wenn man sagt: «Ich habe das direkt bei einem kleinen Familienbetrieb gekauft.»

Das habe auch mit Bildern zu tun, die wieder in Mode sind, sagt Tobias Scheidegger, Sozialanthropologe der Universität Zürich: «Idyllische Bilder einer romantisierten Bäuerlichkeit werden gegen die einer durchrationalisierten und entfremdeten Agrarindustrie gesetzt.»

Bunte Taschen, in der vordersten sieht man eine gelbe Zuchetti und eine organge Peperoni.
Legende: In einem Jahresabo beziehen Mitglieder der Genossenschaft «ortoloco» Produkte vom Hof. SRF / Miriam Künzli

Das Bäuerliche, «gekoppelt an die Scholle», sei im frühen 20. Jahrhundert als das «echte Schweizerische» überhöht worden und dann zeitweise verschwunden. Jetzt tauche es wieder auf als Label, als authentische «Swissness», und treibe Blüten, wie etwa bei einer Fast-Food-Kette, die mit reiner «Schweizer Qualität» werbe.

Aus diesen romantisierten Bildern leiteten sich Ansprüche ab, sagt Scheidegger, drei stünden besonders hoch im Kurs: Transparenz, Regionalität, Nachhaltigkeit.

  • Transparenz bedeute, man müsse wissen, was drin ist. Das führe auch bei Grossverteilern dazu, dass sie «mit diversen Labels und Zertifikate garantieren, dass sie überprüfen, ob alles in Ordnung ist», so Scheidegger.
  • Regionalität heisst: Es wird ausgewiesen, wer, wo etwas produziert hat. Dadurch werde auch «ein Näheverhältnis suggeriert», im Sinne von: Man kennt den Bauern. Das kann sich neu sogar auf städtische Räume erstrecken, etwa in Form von «Bienenhonig aus dem Kreis 3».
  • Nachhaltigkeit ist heute unabdingbar und berücksichtigt unter anderem auch das Tierwohl.

«Es geht nicht nur darum, irgendein Nahrungsmittel zu kaufen»

Auf landwirtschaftlichen Märkten in der Stadt seien diese romantisierten Vorstellungen besonders virulent, sagt Scheidegger: Es gehe nicht nur darum, «irgendein Nahrungsmittel zu kaufen», sondern auch Geschichten und Traditionen. Dass etwas zum Beispiel «eine alte, vergessene Sorte ist, die jetzt wieder angebaut wird oder aus einem ganz besonderen Landstrich im Graubünden kommt.»

Blick auf Obstbäume, dazwischen läuft eine junge Frau weg, hinter ihr eine Gruppe Hennen.
Legende: Der Hof von Tina Siegenthaler umfasst auch einen Obstgarten, Hecken, extensiv genutzte Wiesen sowie Weiden und Wald. SRF / Miriam Künzli

Man kauft etwas, das aus der Masse herausragt. «Die dazugehörige Story, der narrative Mehrwert macht den Unterschied», sagt Scheidegger.

Am Markt zeige sich das auf der visuellen Ebene, erklärt Scheidegger: «Es sind rohe Holztisch zu sehen und Werkzeuge mit Holzgriffen, aber sicher kein Kunststoff, Chrom oder Alu. Urbane Hipster reaktivieren unbewusst ältere Werte und geben sie weiter.»

Sehnsucht nach der guten alten Zeit

Das erzähle über deren Sehnsüchte nach einer guten alten Zeit der kleinen glücklichen Familienbetriebe, «in denen alles durch Handarbeit und Vieheinsatz bewerkstelligt wurde und in denen sicherlich keine vollmaschinellen Abläufe und Computer zum Einsatz kommen», die heute für viele Produzenten überhaupt erst eine Rentabilität ermöglichen.

Für die beiden Porträtierten bedeutet das: Tina Siegenthalers Hof muss mit seiner Organisationsform nicht auf Märkte, um Nähe zur Konsumentin herzustellen.

Die Produkte werden von den Genossenschafterinnen und Genossenschaftern direkt abgenommen, teils selbst geerntet. Mehr Nähe geht kaum.

Apfelbäume in einer Riehe, vier Menschen pflücken Äpfel, tragen braune Taschen.
Legende: Auf dem Fondlihof ernten Genossenschafterinnen und Genossenschafter ihre Äpfel zum Teil selbst. SRF / Miriam Künzli

Thomas Wyssa hat einen Hofladen, mehr an Nähe und Idylle ist nicht zu leisten. Sie wäre zu zeit-, personal- und damit kostenintensiv. Zumal es für seinen Grossbetrieb wenig Sinn macht, seltene Sorten, die aus einer anderen Region kommen, anzubauen. Das würde der Regionalität widersprechen.

Mit der Entscheidung zum Grossbetrieb geht auch die Entscheidung einher, Produkte mit breiten Absatzmöglichkeiten zu erzeugen.

Bauer oder Bäuerin zu sein, bedeutet für Thomas Wyssa auch: «Man kann nicht alles unter einen Hut bringen». Jede Entscheidung für etwas sei auch eine gegen etwas. Oft bleibt das Gefühl, nicht allem gerecht geworden zu sein.

SRF 1, DOK, 23.9.2021, 20:05 Uhr.

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