Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs floh Peter Härtling mit seiner Familie. Sie flohen vor der Roten Armee aus Mähren, das heute zu Tschechien gehört.
Nach einer Zwischenstation in Österreich bestiegen sie 1946 den Zug mit dem Ziel Deutschland. «Es waren fünf Viehwaggons, die aus dem französischen Sektor Wiens losfuhren. Wir waren acht Wochen unterwegs im Winter. Am Ende landeten wir in Württemberg in Wasseralfingen und wurden nach Nürtingen zugeteilt.»
Misstrauen und Abwehr
Dort angekommen, nahm sich seine Mutter das Leben, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Mann, Peter Härtlings Vater, in Kriegsgefangenschaft umgekommen war. Der 12-Jährige und seine Schwester waren auf einen Schlag Vollwaisen, gestrandet in der Fremde.
Sie fühlten sich anders, nicht dazugehörig. «Wir wurden voller Misstrauen und Abwehr empfangen, obwohl wir dieselbe Sprache sprachen. Diese plötzliche Schockkälte empfinde ich bis heute. Ich bin eigentlich immer noch ein Fremder.»
Das Unverständnis macht wütend
Diese Abwehrhaltung sieht Peter Härtling heute im Umgang der deutschen Gesellschaft mit den Flüchtlingen gespiegelt – trotz Willkommenskultur.
Was er beobachtet, ruft starke Gefühle in ihm wach: «Es weckte meine Wut über das Unverständnis in einer beeindruckenden Wohlstandsgesellschaft gegenüber Menschen, die nichts mehr haben.»
Ein Fernsehbild von einer verzweifelten Mutter und ihrem 6-jährigen Kind in einem griechischen Flüchtlingslager gab schliesslich den Ausschlag für ein Kinderbuch über einen syrischen Flüchtlingsbuben namens Djadi.
In dem Kinderroman wird der traumatisierte Djadi von einer Alters-WG liebevoll aufgenommen und schliesst dort mit einem ehemaligen Lehrer eine enge Freundschaft.
«Die Bürokratie schafft einen Kälteraum für die Kinder.»
Auch für Peter Härtling waren vor 70 Jahren erwachsene Bezugspersonen die Rettung: Ein Deutschlehrer, ein Künstler und ein Pfarrer wurden zu wichtigen Ansprechpersonen – Menschen, bei denen er Wärme erfuhr. Gerade auch für entwurzelte Kinder ein Grundbedürfnis.
Peter Härtling sagt: «Die Bürokratie schafft einen Kälteraum für die Kinder. Sie finden sich nicht zurecht, können mit Vorschriften und Gesetzen nicht umgehen. Woher sollen sie’s wissen? An dieser Ferne zwischen der Gesellschaft, in die sie geraten sind, und sich selbst können sie scheitern.»
Bedrückung, Angst und Ungewissheit
Das Kinderbuch über den Flüchtlingsjungen Djadi ist nicht die erste literarische Auseinandersetzung von Peter Härtling mit Flucht. Flucht ist ein Lebensthema von ihm.
Härtling möchte auf die Austauschbarkeit der Fluchterfahrung aufmerksam machen: «Flucht ist eigentlich immer das Gleiche. Weil die Anstrengung, die Bedrückung, die Ängste, die Ungewissheit, die zur Flucht gehören, austauschbar sind.»
Existenzielle Gefühle, die damals genau so galten, wie sie heute gelten für Kriegsflüchtlinge, die nach Europa kommen.