Das Wichtigste in Kürze
- Ein syrischer Junge flüchtet unbegleitet und wird von einer WG in Deutschland aufgenommen – Neuorientierung ist für alle vorprogrammiert.
- Auch der Autor kennt die Flucht : Seine Familie flüchtete während des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee.
- Klare, knappe Sprache lässt Raum für die Fantasie der jungen Leser.
- Schmerz, Freude, Abschied und Neuanfang sind Gefühle, in denen sich auch Kinder wiederfinden können, die nicht geflohen sind.
Eine WG wird zur Schicksalsgemeinschaft
Erst ganz allein, dann von gleich drei Grosselternpaaren umgeben. Das passiert Djadi, einem vielleicht elfjährigen, hageren Jungen aus Syrien.
Die Flucht aus Homs hat er mit Eltern und Geschwistern angetreten. Doch spätestens bei der gefährlichen Überfahrt auf dem Meer sind alle verschwunden. Als er in Deutschland ankommt, nimmt ihn Sozialarbeiter Jan gleich mit in seine WG. Die Wohngemeinschaft in Frankfurt wird mit Djadi zur Schicksalsgemeinschaft.
Der Autor begleitet Djadis Ankommen in der westlichen Welt. Erst ist der Junge sprachlos, versteckt sich bei der kleinsten Bedrohung unter dem Sofa – auch wenn nur die Nachbarin klingelt, um ein Paket vorbeizubringen.
Viel Raum für Fantasie
Mit solch fein gezeichneten Momentaufnahmen öffnet Autor Peter Härtling die Türe zu der tieferliegenden, weit verborgenen Schicht des Erlebten: Djadi ist traumatisiert, verschlossen und braucht vor allem eines – Zeit.
Die bekommt er von den WG-Bewohnern. Behutsam versuchen sie, jeder auf seine Weise, auf den Jungen einzugehen: Der Sozialarbeiter Jan, die Psychologin Doro, das Steuerberater-Paar Gisela und Detlef, die ehemalige Lehrerin Kordula und vor allem Wladi, ebenfalls pensionierter Lehrer.
Wladi war selber auch ein Vertriebener, ein Kriegskind aus Ostpreussen. In ihm erkennt man unschwer Peter Härtlings Alter Ego.
Auch der Autor weiss, was Flucht ist
Denn auch Peter Härtling weiss, was auf der Flucht sein bedeutet. Seine Familie flüchtete während des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee. «Den Wladi habe ich für diese WG erfunden, weil ich jemanden brauchte, der Djadi auffängt», sagte Peter Härtling in einem Zeitungsinterview. Es ist dieser alte Mann, der den besten Zugang zu Djadi findet. Sie werden dicke Freunde.
Peter Härtling schreibt in klaren, knappen Sätzen. Genau so zeichnet er auch die Figuren: Klar und knapp. Einige wenige Charakterzüge reichen, dann kann man sich mit der eigenen Fantasie die Figur selber bauen.
Diese schlanke Sprache ist sehr kindgerecht. Für Zehnjährige ist das Buch angelegt, jedoch explizit auch für Erwachsene.
Wie fängt man einen traumatisiertes Kind auf?
Erst schaut der Autor aus der Erwachsenenperspektive auf den Neuankömmling Djadi. In vielerlei Episoden zeigt er auf, welche Fragen und Schwierigkeiten sich ergeben, wenn ein syrischer Junge plötzlich in einem wohlgeordneten Haushalt auftaucht.
Beiträge zum Thema
- Wütende Kritik am Umgang mit Flüchtlingen (Kultur, 30.8.2016)
- Denn sie wissen nicht, wo sie hingehören (Kultur, 27.8.2016)
- Die Flucht eines Zwölfjährigen nach Europa (Kultur, 9.7.2016)
- «Heimatland»: Schweizer als Flüchtlinge (Kultur, 12.11.2015)
- Sachbuch-Tipps: Europas Flüchtlinge (Kultur, 19.6.2015)
- Flüchtlingsromane – nah an unserer Realität (Kultur, 20.6.2015)
Besonders gelungen sind Situationen wie diese: Als Djadi zum Amts-Arzt muss, kommen seine Begleiter Jan und Wladi mit. Damit der traumatisierte Junge mitmacht, entblössen die alten Männer ebenfalls ihren Oberkörper, um sich untersuchen zu lassen, steigen ebenso auf die Waage und sperren weit den Rachen auf.
Der Plan funktioniert – Djadi lässt sich problemlos untersuchen. In der Gemeinschaft, so die Botschaft, fällt vieles leichter.
Protagonisten sind nicht unfehlbar
Zwischendurch wechselt Peter Härtling jedoch die Erzählperspektive und schaut in Djadis Kopf, zeigt seinen Kampf um ein normales Leben. Das öffnet die Thematik auf viele Seiten. In der Geschichte sind die Protagonisten jedoch nicht unfehlbar.
Dass Sozialarbeiter Jan und seine Frau Dorothea mit dem Jungen ans Meer fahren, um Ferien auf einer Insel zu verbringen, mutet etwas seltsam an. Denn Djadi ist übers Meer geflüchtet und hat seine Familie ertrinken sehen. Natürlich reagiert Djadi verstört.
Abschied und Schmerz kennen auch andere Kinder
Dass sich Schwierigkeiten dann doch eher glimpflich beseitigen lassen, ist vermutlich dem jungen Lesepublikum geschuldet. Das tut der feinfühligen Geschichte keinen Abbruch.
Djadi – und mit ihm die Leserinnen und Leser – erfährt in diesem Stationendrama, dass Abschied, Schmerz, Neuanfang und Freude immer wieder das Leben bestimmen – egal ob Flüchtlingskind oder nicht.