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Autor Juri Andruchowytsch «Über Literatur diskutieren bedeutet, dass wir weiterleben»

Juri Andruchowytsch gilt als eine der wichtigsten literarischen und intellektuellen Stimmen der Ukraine. Am diesjährigen Literaturfestival BuchBasel las er vor vollem Saal aus seinem neuen Roman und nahm an einem Podium über «Die Ukraine und Europa» teil.

Wie schöpfen die Menschen in der Ukraine Kraft aus der Literatur? Gespräch mit einem Unermüdlichen.

Juri Andruchowytsch

Schriftsteller

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Juri Andruchowytsch ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer. Er gilt zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen seines Landes. Andruchowytschs Werke werden international übersetzt und verlegt. Sein jüngster Roman «Radio Nacht» ist im September bei Suhrkamp erschienen.

SRF: Juri Andruchowytsch, Sie waren gerade auf Lesereise in der Ukraine und berichten, dass die Säle voll waren. Wie ist zu erklären, dass die Menschen, die jetzt mit dem Krieg beschäftigt sind, so grosses Interesse an Literatur haben?

Juri Andruchowytsch: Die Leute haben das Literaturleben seit Februar sehr vermisst. Nicht nur Literaturliebhaber waren vor Ort, sondern auch Menschen, die sich eine Art von Normalität wünschten. Es war wie ein Zeichen, dass das Leben weitergeht.

Und dass wir als Gesellschaft ungebrochen bleiben, wenn wir uns erlauben, über Literatur, Musik und Kunst zu diskutieren, neue Texte schreiben und wahrnehmen. Das bedeutet: Wir sind reif und stark. Wir leben weiter.

Wenn man uns in europäischen Ländern besser versteht, dann gewinnt das ganze Land – auch im Sinne des Krieges.

Auf dem Podium bei der diesjährigen BuchBasel wurde gesagt: In Zeiten des Krieges sei Literatur und das Gespräch über die Geschichte besonders nachgefragt. Würden Sie dem zustimmen?

Ja, das ist wahr. Die Leute wollen das Geschehen besser verstehen, viele suchen Antworten auf die Frage: Warum ausgerechnet wir? Dabei können Lesen und das Gespräch über Geschichte helfen.

Sie sind derzeit bei vielen Podiumsdiskussionen und Lesungen im Ausland dabei. Werden Autoren und Autorinnen aus der Ukraine im Moment zu einer Art Botschafter des Landes?

Botschafter ist ein grosses Wort, aber ja: Wenn man uns in europäischen Ländern besser versteht, dann gewinnt das ganze Land – auch im Sinne des Krieges. Wir brauchen Verständnis und Empathie und müssen im Zentrum der Aufmerksamkeit bleiben. Autoren und Autorinnen aus der Ukraine versuchen genau dazu beizutragen.

Wie wirkt sich der Krieg auf Ihr Schreiben aus?

Die Situation macht mein Leben ziemlich kontrastreich, ich lerne viel. Wenn ich in Wien oder in Frankfurt lese und eine Woche später an der Frontlinie mit Soldaten spreche und in einem absolut verdunkelten Hotel übernachte, prägt das meine persönlichen Erfahrungen.

In Charkiw zum Beispiel waren wir nur zu dritt in einem Hotel, das war ziemlich gespenstisch. Solche Erfahrungen finden Ausdruck in meinen Texten.

Jetzt kann ich wieder schreiben, und ich werde schreiben.

Manche Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus der Ukraine sagen, sie könnten derzeit nicht schreiben. Bei ihnen ist das nicht der Fall?

Mein neues Buch habe ich bereits vor dem russischen Angriff angefangen. Danach kam eine lange Unterbrechung wegen des Schocks. Ich war zwar vorbereitet, doch als es dann tatsächlich passierte, brauchte ich trotzdem eine Weile, um es wirklich zu glauben. Aber jetzt kann ich schreiben, und ich werde schreiben.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

Buchhinweis

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Juri Andruchowytsch: «Radio Nacht». Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022.

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 21.11.2022, 07:06 Uhr ; 

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