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Ein Roman bricht das Schweigen Den Opfern der «schwarzen Pädagogik» endlich eine Stimme geben

Paulus Hochgatterer thematisiert die «schwarze Pädagogik» in Erziehungsheimen, ein dunkles Kapitel aus Österreichs Vergangenheit. «Fliege fort, fliege fort» ist ein brillanter Krimi mit realem Hintergrund.

Die brutalen Massnahmen gegen Regelverstösse versteckten sich hinter harmlosen Decknamen: Die «Wiederverwertung» bedeutete, dass einem Kind das übriggebliebene Essen auf dem Teller mit Gewalt in den Hals geschoben wurde. Falls es im Anschluss erbrach, musste es auch das Erbrochene runterschlucken. Wurde die Strafe der «Siegelring» verordnet, hatte das Kind niederzuknien, und der Direktor zog mit seinem Ring eine tiefe Blutspur über den kleinen Schädel.

Österreich unter Schock

So beschreibt Paulus Hochgatterer in «Fliege fort, fliege fort» die Praxis im Erziehungsheim die «Burg» und erwähnt noch andere Codes: der «Einzug in Jerusalem», die «Decke», die «Glatze».

Ort und Handlung sind Fiktion, aber die geschilderten Sanktionen basieren auf Zeugenaussagen von echten Betroffenen. Die skandalösen Zustände wurden erst publik, als ehemalige Opfer endlich den Schritt an die Öffentlichkeit wagten.

Kind von hinten, das vor einem geschlossenen Fenster steht.
Legende: Gewalt und Demütigungen wurden eingesetzt, bis Kinder systematisch gebrochen waren. Getty Images

Und ihre schockierenden Berichte machten deutlich: Die sogenannte «schwarze Pädagogik» wurde nicht etwa nur in vereinzelten Erziehungsheimen praktiziert, sondern schienen landesweit Usus gewesen zu sein. In ganz Österreich wurden in der Folge Kommissionen eingesetzt, um die Verhältnisse hinter Heimmauern zwischen 1945 und 1999 aufzuklären.

Folter und Sadismus

Allein in Wien dauerte die Untersuchung neun Jahre. Im vergangenen November wurde der Abschlussbericht vorgelegt; darin ist «von systematischer, schwerer Misshandlung, Folter und Sadismus» die Rede.

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig entschuldigte sich bei der Präsentation der Untersuchungsresultate bei den damaligen Betroffenen: «Es ist unsere Pflicht als Stadt, unsere Verantwortung wahrzunehmen, geschehenes Unrecht ohne Relativierung anzuerkennen.» 52 Millionen Euro wurden nun den 2‘400 Opfern an Entschädigungen ausbezahlt.

«Systematisch gebrochen»

Auch Paulus Hochgatterer ist an der Aufklärung dieser dunklen Vergangenheit beteiligt. Als erfahrener Kinder- und Jugendpsychiater, der in Tulln eine Klinik leitet, sitzt der 58-jährige Schriftsteller in einer Untersuchungskommission in Niederösterreich. Die Horrorgeschichten, die er dabei erfuhr, überstiegen jegliche Vorstellungskraft: «Kinder wurden systematisch gebrochen», sagt er.

Von Schreiben als Psychohygiene hält Hochgatterer wenig; aber er gesteht, dass für ihn die Fiktion auch eine Möglichkeit ist, die Realität umzugestalten und stellvertretend für die damaligen Opfer Vergeltung zu üben: «Diese Form von Rache gefällt mir. Sie kommt ohne Blutvergiessen aus».

Buchhinweis

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Paulus Hochgatterer: «Fliege fort, fliege fort», Deuticke Verlag

Schauplatz ist die fiktive Provinzstadt Furth: Wir lernen diesen Ort in der Gegenwart kennen und haben – wie die meisten Einheimischen – zunächst keine Ahnung, dass hier einst Heimkinder in der sogenannten «Burg» aufs Grausamste misshandelt und gedemütigt worden sind.

Aber plötzlich häufen sich in Furth eigenartige Ereignisse: Ein Sprayer treibt sein Unwesen. Ein Kind wird entführt und ältere Menschen erleiden schwere Verletzungen, die auf äussere Gewalteinwirkung hinweisen. Komischerweise behaupten alle, nicht Opfer von Überfällen geworden zu sein.

Erst langsam dämmert es dem zuständigen Kommissar Ludwig Kovacs, dass diese Senioren etwas verbindet.

So ist vor diesem traurigen Hintergrund der hochkonzentrierte literarische Krimi «Fliege fort, fliege fort» entstanden, der sprachlich, atmosphärisch und formal besticht. Der Autor erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Grosse literarische Kraft

Paulus Hochgatterer bestätigt einmal mehr sein grosses Talent als Schriftsteller: Die Lektüre öffnet uns die Augen für namenlose Zustände, ohne uns aber gleichzeitig nur abzuschrecken.

Damit beweist er, was gute Literatur vermag: uns hellhörig zu machen für gesellschaftliche Missstände. Er sagt, dass er diesen Roman auch dazu benutzen wollte, all den stummen Opfern «endlich eine Stimme zu geben». Und das ist ihm mit diesem besonderen Roman zweifellos gelungen.

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