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Erzählband «Sprechen lernen» Hilary Mantels unglückliche Kindheit war für sie ein Schatz

Mit historischen Romanen feierte Hilary Mantel Welterfolge. Wie exzellent sie schrieb, zeigen aber auch ihre autobiografischen Erzählungen.

Fällt der Name Hilary Mantel (1952-2022), denkt man sofort an ihre «Tudor»-Trilogie . Die drei Romane über die englische Monarchie zu Beginn des 16. Jahrhunderts machten sie weltberühmt. Sie waren besonders: Mantel richtete ihr Augenmerk weniger auf König Heinrich VIII. als auf dessen Berater Thomas Cromwell.

Statt royalen Pomp zu inszenieren, sezierte Hilary Mantel, wie Cromwell, Sohn eines brutalen Schmieds aus dem Londoner Elendsviertel Putney, am Hof Heinrichs VIII. aufstieg und fiel. Dafür erhielt sie als bislang einzige Frau zweimal hintereinander den renommierten Booker-Preis. 2014 wurde sie von Königin Elizabeth II. geadelt.

Bühnenszene: Fürstlich gekleideter Mann mit Hut und Robe breitet seine Arme aus; er umarmt eine Frau in buntem Kleid.
Legende: Hilary Mantel (Mi.) 2009 bei der Premiere des Stücks «Wolf Hall», das auf ihrem gleichnamigen Roman über den Aufstieg Thomas Cromwells am Hof Heinrichs VIII. basiert. Getty Images / Wire Image / John Lamparski

Hilary Mantels Erzählband «Sprechen lernen» erschien im Original 2003, ein paar Jahre vor ihren Cromwell-Romanen. Mantel legt in den sechs Geschichten das erzählerische Seziermesser an ihre Kindheit in Derbyshire im Nordwesten Englands an. In den 1950er-Jahren waren die Verhältnisse dort prekär. Als junge Sozialarbeiterin setzte sich Mantel später für gesellschaftliche und politische Veränderungen ein.

Gegängelt, ausgestossen, isoliert – und erfolgreich

In ihrem Milieu galten Kinder damals nichts. Sie wurden gegängelt und ansonsten im Stich gelassen. Die Erwachsenen waren mit ihrem eigenen Elend beschäftigt. Für Mantel kam hinzu, dass sie nur schon durch ihre irisch-katholische Herkunft eine Aussenseiterin war. Die «falsche» Religion zeitigte Hohn und Spott. Aber auch ihre aussergewöhnliche Intelligenz und Wahrnehmungsgabe isolierten sie.

Die schlimmste Ausgrenzung, und auch den schlimmsten Schmerz, brachte ihr die Mutter bei. Diese holte ihren Liebhaber ins Haus, als Hilary Mantel acht Jahre alt war. Trotz des Skandals und der Ächtung, die darauf folgten, hörte Mantel nie ein Wort der Erklärung von ihrer Mutter. Der Vater lebte noch eine Weile zurückgezogen in einem Zimmer des gemeinsamen Haushalts. Dann verschwand er spurlos. Und die Mutter tat, als hätte es ihn nie gegeben.

Eine Frau Mitte Fünfzig hält einen opulenten Orden in die Kamera. Sie lacht.
Legende: Ehrensache: 2016 wurde die Bestsellerautorin Hilary Mantel von Queen Elizabeth II. mit dem Adelsprädikat «Dame Commander» im Ritterorden des British Empire aufgenommen. Getty Images / WPA Pool / Philip Toscano

Hilary Mantels sechs Erzählungen in «Sprechen lernen» entstanden über einen langen Zeitraum und lesen sich wie sechs Kapitelentwürfe eines Romans. Mit unvergleichlichem Feingefühl tragen sie dem Umstand Rechnung, dass Erinnerung nie wirklich zu fassen ist: «Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.»

Unglückliche Kindheit als Schatz

Hilary Mantel zu lesen ist immer ein Fest: Scharfe Analyse verbindet sich mit dichter Atmosphäre und irrlichterndem Witz. In «Sprechen lernen» berührt besonders, wie genau Mantel kindliche Gefühle und kindliches Denken einfängt. Nie füllt sie dabei Lücken mit Erinnerungskitsch. Umso ergreifender manifestiert sich der Wille eines Kindes, für sich einzustehen – mögen die Umstände noch so widrig sein.

Buchhinweis

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Hilary Mantel: «Sprechen lernen. Erzählungen.» Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 156 Dumont, 2023.

Dem Verstörenden und Bedrohlichen ihrer Kindheit begegnete Hilary Mantel, indem sie es immer aufs Neue einkreiste. In einem Interview kurz vor ihrem Tod letztes Jahr sagte sie, der einzige Sinn des Schreibens bestehe darin, Schlechtes in Gutes zu verwandeln: «Ich will nicht zynisch sein, aber eine unglückliche Kindheit ist ein Schatz für eine Schriftstellerin.»

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