Fällt der Name Hilary Mantel (1952-2022), denkt man sofort an ihre «Tudor»-Trilogie . Die drei Romane über die englische Monarchie zu Beginn des 16. Jahrhunderts machten sie weltberühmt. Sie waren besonders: Mantel richtete ihr Augenmerk weniger auf König Heinrich VIII. als auf dessen Berater Thomas Cromwell.
Statt royalen Pomp zu inszenieren, sezierte Hilary Mantel, wie Cromwell, Sohn eines brutalen Schmieds aus dem Londoner Elendsviertel Putney, am Hof Heinrichs VIII. aufstieg und fiel. Dafür erhielt sie als bislang einzige Frau zweimal hintereinander den renommierten Booker-Preis. 2014 wurde sie von Königin Elizabeth II. geadelt.
Hilary Mantels Erzählband «Sprechen lernen» erschien im Original 2003, ein paar Jahre vor ihren Cromwell-Romanen. Mantel legt in den sechs Geschichten das erzählerische Seziermesser an ihre Kindheit in Derbyshire im Nordwesten Englands an. In den 1950er-Jahren waren die Verhältnisse dort prekär. Als junge Sozialarbeiterin setzte sich Mantel später für gesellschaftliche und politische Veränderungen ein.
Gegängelt, ausgestossen, isoliert – und erfolgreich
In ihrem Milieu galten Kinder damals nichts. Sie wurden gegängelt und ansonsten im Stich gelassen. Die Erwachsenen waren mit ihrem eigenen Elend beschäftigt. Für Mantel kam hinzu, dass sie nur schon durch ihre irisch-katholische Herkunft eine Aussenseiterin war. Die «falsche» Religion zeitigte Hohn und Spott. Aber auch ihre aussergewöhnliche Intelligenz und Wahrnehmungsgabe isolierten sie.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Die schlimmste Ausgrenzung, und auch den schlimmsten Schmerz, brachte ihr die Mutter bei. Diese holte ihren Liebhaber ins Haus, als Hilary Mantel acht Jahre alt war. Trotz des Skandals und der Ächtung, die darauf folgten, hörte Mantel nie ein Wort der Erklärung von ihrer Mutter. Der Vater lebte noch eine Weile zurückgezogen in einem Zimmer des gemeinsamen Haushalts. Dann verschwand er spurlos. Und die Mutter tat, als hätte es ihn nie gegeben.
Hilary Mantels sechs Erzählungen in «Sprechen lernen» entstanden über einen langen Zeitraum und lesen sich wie sechs Kapitelentwürfe eines Romans. Mit unvergleichlichem Feingefühl tragen sie dem Umstand Rechnung, dass Erinnerung nie wirklich zu fassen ist: «Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche.»
Unglückliche Kindheit als Schatz
Hilary Mantel zu lesen ist immer ein Fest: Scharfe Analyse verbindet sich mit dichter Atmosphäre und irrlichterndem Witz. In «Sprechen lernen» berührt besonders, wie genau Mantel kindliche Gefühle und kindliches Denken einfängt. Nie füllt sie dabei Lücken mit Erinnerungskitsch. Umso ergreifender manifestiert sich der Wille eines Kindes, für sich einzustehen – mögen die Umstände noch so widrig sein.
Dem Verstörenden und Bedrohlichen ihrer Kindheit begegnete Hilary Mantel, indem sie es immer aufs Neue einkreiste. In einem Interview kurz vor ihrem Tod letztes Jahr sagte sie, der einzige Sinn des Schreibens bestehe darin, Schlechtes in Gutes zu verwandeln: «Ich will nicht zynisch sein, aber eine unglückliche Kindheit ist ein Schatz für eine Schriftstellerin.»