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Schweizer Literatur Jürg Halter, Pedro Lenz und der Missbrauch der Mundart

In zwölf Jahren kann viel passieren. 2005 waren Jürg Halter und Pedro Lenz Pioniere der Spoken-Word-Bewegung. Sie haben sich verändert. Die Mundart auch.

Im Jahre 2005 traten Jürg Halter und Pedro Lenz als relativ junge Schweizer Autoren bei den Solothurner Literaturtagen und im Radio auf. Auf diese gemeinsamen Erfahrungen folgten unterschiedliche Entwicklungen.

Jürg Halter

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Halter und sein dunkler Zwilling

Damals war Jürg Halter 25 Jahre alt. Er gab, nach vielen Einzelveröffentlichungen, sein Debut als Lyriker mit dem Band «Ich habe die Welt berührt».

Am bekanntesten war er allerdings als Musiker und Mundart-Rapper unter dem Namen Kutti MC. Ein Zwilling gleichsam: der hochdeutsche Lyriker und die dunkel-ironische Mundart-Kunstfigur.

Experimentieren, nicht pflegen

Der andere, Pedro Lenz, Journalist, Schriftsteller, Lyriker veröffentlichte damals eine skurrile Rarität. Bis heute ist «Das kleine Lexikon der Provinzliteratur» ein Evergreen.

Lenz hatte auch begonnen, mit der Umgangssprache zu experimentieren. Ihn interessierte nicht die Dialektpflege. Er beobachtete, wie die Leute wirklich sprachen, wie sie mit Formeln und Wendungen umgingen und sich zu erkennen gaben.

Beide, Halter und Lenz, waren begeisterte Performer. Sie betrieben in Bern die erfolgreiche, wöchentliche Veranstaltungsreihe «Tintensaufen». Dort gestalteten sie und andere Texte vor Publikum. So wurden sie zu Pionieren der Spoken-Word-Bewegung.

Als wäre Umgangssprache Dreck

Wenn Pedro Lenz zurückblickt, so stellt er unter anderem fest, dass in der Deutschschweiz etwas entstanden ist, was er als Pest bezeichnet: der Mundart-Pop, «dieser zähflüssige Zuckersaft, der uns Augen und Ohren verklebt für alles, was einigermassen relevant sein könnte. Unzählige Barden bodenloser Banalität benutzen die Umgangssprache, als wäre sie ein Stück Dreck», sagt Lenz.

Gemeint sind Musiker wie Bligg, Schluneggers Heimweh, Fabienne Louves, Gölä, Trauffer und andere. Lenz kritisiert «diese unsägliche Swissness – dieses Daraufhinweisen, dass wir eine Mundart haben, als hätten andere Leute keine».

Pedro Lenz
Legende: Pedro Lenz stellt einen «ideologischen Missbrauch» des Dialekts fest. Er begegnet ihm mit noch mehr Mundart. Keystone

Malträtierte Mundart

Pedro Lenz erregt sich darüber, wie im Pop die Mundart durch schlechte Reime und Unterwerfung unters Hochdeutsche malträtiert wird.

Pedro Lenz

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Pedro Lenz reagiert auf diesen «ideologischen Missbrauch des Dialekts» mit einer verstärkten Hinwendung zum Dialekt. «Ich mache noch mehr Mundart als damals», sagt er. Auch seine erfolgreichen Romane («Der Goali bin iig», «Di schöni Fanny») hat er in Mundart geschrieben.

Kunst der Veränderung

Lenz ist der Typ, der sich, um schreiben zu können, ständig an dem reiben muss, was er jeden Tag hört. Er beobachtet, wie sich Ausdrucksweisen verändern.

Wo es früher an der Wurstbude «Zum Mitnehmen» hiess, da stand später «Take away», und heute heisst es «to go». Oder: Eine Internetzeitung preist sich an mit dem literaturreifen Slogan: «Schauen statt Lesen!»

Er höre einfach gerne zu, sagt Pedro Lenz. Die Redeweisen auf der Strasse seien oft voller sprachlicher Innovation, voller rhythmischer Kreativität, voller ungewohnter Sprachmelodien.

Kutti MC ist tot

«Die Schweiz ist mir im Hals stecken geblieben», sagt Jürg Halter. Er reagiert auf den «ideologischen Missbrauch des Dialekts» mit Abwendung: 2015 hat er Kutti MC sterben lassen.

Dafür hatte er viele Gründe. Ein wichtiger Grund war, dass «diese ganze Mundartkultur, vor allem in der Musik, sich in eine Richtung entwickelte, die ich beängstigend finde».

Audio
Lenz und Halter über ihren veränderten Umgang mit der Mundart
04:24 min
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 24 Sekunden.

«Dieser neue Patriotismus, diese Schlagertexte von Trauffer, Bligg und anderen, da ist jede kritische Distanz verloren gegangen.» Da werde nicht mehr mit Sprache gespielt, da herrsche die totale Banalisierung.

Auseinanderentwickelt

Zu eng sei es ihm geworden in der Schweiz, sagt Halter. Er wollte ein Fenster öffnen. Er hat sich international organisiert, tritt in aller Welt auf. Mit dem grossen japanischen Dichter Tanikawa Shuntaro hat er zwei Kettengedichte veröffentlicht.

Jürg Halter und Pedro Lenz pflegen noch heute freundschaftlichen Umgang miteinander und respektieren sich gegenseitig. Aber sie haben, nach gemeinsamen Anfängen, aus der Entwicklung ihres literarischen und politischen Umfelds in der Schweiz gegensätzliche Konsequenzen gezogen.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 21.7.2017, 9 Uhr

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