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Moderne Märchen Pittoreske Parallelwelt: Was fasziniert uns an Rosamunde Pilcher?

Die Königin der lesefreundlichen Belanglosigkeit hätte am 22. September ihren 100. Geburtstag gefeiert. Über 60 Millionen verkaufte Bücher und 150 Fernsehfilme lassen fragen: Warum laufen ihre Geschichten, die so offensichtlich aus der Zeit gefallen sind, so gut?

In Pilcher-England tragen die Herren Tweed-Jacketts und Einstecktücher, die Damen Strohhüte und Perlenketten. Man plaudert beim Afternoon Tea und residiert in edlen Landhäusern oder auf herrschaftlichen Gutssitzen. Im schnittigen Cabrio braust man zu einem verträumten Cottage, hoch über den Klippen an der malerischen Küste im Süden Englands.

Älteres Paar steht lächelnd im Garten vor einem Haus.
Legende: Eine Szene aus einem Pilcher-Roman? Nicht ganz: Rosamunde Pilcher und ihr Ehemann Graham Pilcher (1916–2009) vor ihrem schottischen Landhaus im Jahr 2008. KEYSTONE / Karl-Heinz Hug

Michael Smeaton, seit über 30 Jahren Produzent der Pilcher-Filme, sagt dazu im persönlichen Gespräch mit SRF: «Die Pilcher-Filme sind schon ein Stück weit traditionell gehalten. Wir spiegeln ja ein Leben in England wider, das es so in dieser Form nicht mehr gibt. Wir zeigen diese Welt, wie sie früher mal war. Und ich glaube, das spricht die Leute sehr an.»

Wer war Rosamunde Pilcher?

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Die britische Autorin Rosamunde Pilcher wurde am 22. September 1924 Leland (Cornwall) geboren. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg heiratete sie den schottischen Textilunternehmer Graham Pilcher (1916–2009) und zog mit ihm nach Schottland, wo das Ehepaar anschliessend wohnte. Mit Graham Pilcher blieb sie zeitlebens verheiratet und hatte vier Kinder.

Zu schreiben begann Rosamunde Pilcher mit bereits 15 Jahren. Anfänglich publizierte sie unter dem Pseudonym Jane Fraser – primär Kurzgeschichten und Liebesgeschichten für Frauenmagazine.

Ihr Durchbruch als Autorin erfolgte 1987 mit dem Roman «The Shell Seekers» (dt. «Die Muschelsucher»). Der Roman verkaufte sich weltweit mehr als fünf Millionen Mal und wurde für die Bühne als auch zweimal als Fernsehfilm adaptiert.

Rosamunde Pilcher verstarb 2019 im Alter von 94 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls in Schottland.

Tatsächlich bieten sich die Traumhäuser in einer wunderschönen Landschaft perfekt an, um bei Meeresrauschen und Möwenschreien über Leben und Liebe zu sinnieren.

Das tut zum Beispiel Morris in der Geschichte «Der Himmel über Cornwall»: «Lilian war schön, reich und intelligent. Und keiner, der sie und Morris kannte, konnte sein Zögern nachvollziehen. Nach aussen waren sie das Traumpaar schlechthin, aber tief in seinem Herzen verspürte Morris einen nagenden Zweifel … diese Gedanken beschäftigten ihn, als er seinen Sportwagen abstellte, um ein wenig am Strand zu wandern.»

Banal und vorhersehbar?

Rosamunde Pilchers Geschichten erzählen von Liebe, Beziehungen, Scheidungen, Familien, Erbschaften, Intrigen. Literaturkritikerinnen und -kritiker können in diesen Geschichten selten etwas Inspirierendes finden – zu banal, zu repetitiv, zu vorhersehbar.

Schwarzweissfoto einer älteren Frau an einem Schreibtisch mit Schreibmaschine.
Legende: Rosamunde Pilcher verfasste Teile ihres Werks vom Schlafzimmer aus – dank eines Dachbodenfunds: einer Schreibmaschine (Aufnahme undatiert). Getty Images / Ian Cook

Oder, wie es die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» einmal formuliert hat: «Die Belanglosigkeiten der Alltagsverständigung ergiessen sich seitenlang. Hinzu kommen leserfreundliche Wiederholungen, so dass selbst der Begriffsstutzigste merkt, wohin der Hase läuft. Überhaupt ist der Ablauf nach 50 Seiten klar.»

Es stimmt: Alles, was verstörend ist in Bezug auf Leben und Liebe, alles, was man nicht verstehen kann, wird ausgeklammert. Die Sprache, in der Rosamunde Pilcher erzählt, ist weder besonders poetisch noch innovativ.

Allerdings war es auch gar nie Pilchers Ziel, eine Literatin zu werden. 1994 sagte sie in einem Interview mit dem damaligen Schweizer Radio DRS, dass sie als junge Ehefrau auf dem schottischen Gutssitz ihres Mannes, eines Textilunternehmers, viel allein gewesen sei. Sie habe nach einer Beschäftigung gesucht.

Ältere Frau mit Brille hält eine Teetasse hoch.
Legende: Wie könnte es anders sein? Rosamunde Pilcher, very british, beim Genuss einer Tasse Tee im Jahr 2008. KEYSTONE / DPA / Bodo Marks

Auf dem Estrich der Schwiegereltern habe sie dann eine alte Schreibmaschine gefunden – aber wäre es eine Nähmaschine gewesen, hätte sie sich auch damit beschäftigt. Auf die Kritik an ihren Geschichten reagierte sie gelassen und pragmatisch: Für sie sei klar, dass ihre Bücher nicht allen gefielen. Wenn man schreibe, müsse man mit Kritik leben.

Kein zwanghafter Fokus

Allerdings gibt es mittlerweile einen sehr grossen Graben zwischen der relativ heilen Welt, die Rosamunde Pilcher beschreibt, und der heutigen Gesellschaft, die sich in den letzten 30 Jahren stark verändert hat. Weibliche Emanzipation, Rollenverteilung, Diversität, Inklusion, Geschlechtsidentität und Wokeness sind nur einige der aktuellen Themen.

Paar in einem klassischen, offenen Oldtimer auf einer Strasse.
Legende: Überholte Gesellschaftsbilder in Pilcher-Filmen? Kurzer Faktencheck: Ein gediegener Verbrenner. Anschnallen: Fehlanzeige. Und der Mann am Steuer. («Liebe im Spiel», 2003) Getty Images / Peter Bischoff

Da bis heute Kurzgeschichten von Rosamunde Pilcher verfilmt werden, stellt sich die Frage: Wieweit wird in den Filmen auf aktuelle gesellschaftliche Themen eingegangen?

Michael Smeaton, langjähriger Produzent von Pilcher-Filmen, sagt: «Das ist bei uns immer wieder Thema und wird ernst genommen. Wir haben Filme gedreht, mit Themen, die nicht dem gängigen alten Bild der Gesellschaft entsprechen.» Als Beispiele nennt Michael Smeaton die Geschichte eines Paars, das eine offene Beziehung lebt, die Geschichte eines lesbischen Paars oder eines homosexuellen Fussballers.

Drei Personen sitzen in einem Wohnzimmer und unterhalten sich.
Legende: Gegen jeden Zweifel erhaben? Die heile Welt der Pilcher-Filme steht im Kontrast zur realen Welt – will aber auch gar nicht mehr. («Blumen im Regen», 2001) Getty Images / Peter Bischoff

Trotzdem wolle man den Fokus nicht zwanghaft auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen legen, sagt Smeaton weiter: «Grundsätzlich wollen wir vor allem den Kern der Pilcher-Filme erhalten. Es geht um die Liebe und um die Frage, wer kriegt wen. Ob derjenige, der jemanden kriegt, eine homosexuelle, lesbische oder irgendeine andere Liebesbeziehung führt, ist nicht vordergründig das Thema, das wir unbedingt behandeln müssen.»

Was überraschen mag: Rosamunde Pilcher war eine Feministin. Im Interview von 1994 sagte sie ganz klar: «Wissen Sie, es ist so einengend und erniedrigend, wenn man als Ehefrau kein eigenes Geld hat.»

Sie heiratete früh und merkte sehr bald, dass ihr Mann ein, wie sie sagte, «Macho-Leben» führte: Seine Freizeit verbrachte er vor allem mit seinen Freunden, mit Golfspielen und Jagen. Sie resignierte aber nicht etwa, sondern begann eben zu schreiben.

Geschichten als Kuscheldecke

Der grosse Erfolg kam dann aber sehr spät – erst mit dem Roman «Die Muschelsucher», als Rosamunde Pilcher schon 63 Jahre alt war. Aber sie wurde zur Bestsellerautorin und verkaufte insgesamt über 60 Millionen Bücher. Bis heute wurden rund 150 Fernsehfilme produziert.

Mann macht einer Frau einen Heiratsantrag vor einem Herrenhaus.
Legende: Eine Szene, wie eine flauschig-warme Decke. Viel Spass beim Einkuscheln! («Englischer Wein», 2011) Getty Images / Peter Bischoff

Worin also liegt ihr Erfolgsgeheimnis? Sex und Gewalt – normalerweise Erfolgsgaranten – waren nie ein Thema. Aber Romantik. Rosamunde Pilcher erzählt moderne Märchen. Ihre Geschichten sind zwar vorhersehbar, aber deshalb auch nie aufreibend.

Man muss sich keine Sorgen darüber machen, ob es ein Happy End gibt, man kann sich zurücklehnen und darauf vertrauen. Und: Man muss keine Haltung haben zu den Geschehnissen im Buch oder im Fernsehen.

Rosamunde-Pilcher-Filme bei SRF

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Pilcher-Geschichten sind wie eine Kuscheldecke, in die man sich einwickeln und eine Auszeit vom Alltag geniessen kann. Darin sah auch Rosamunde Pilcher ihr Erfolgsrezept: Ihre Geschichten seien eine Flucht – «aber daran ist nichts Falsches. Es ist keine Flucht in eine Fantasiewelt, sondern in eine Welt, die ich kenne, eine ziemlich angenehme Welt», sagte sie. Trotzdem blieb Rosamunde Pilcher bodenständig – anstelle eines schnittigen Cabrios fuhr sie einen 20-jährigen Ford.

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