«Ist das überhaupt ein Ich-Erzähler? Oder sind es viele Ich-Erzähler? Da wird auch ein Köder ausgelegt. Und das ist das Typische für David Albahari: dass er den Leser immer im Dunklen lässt.»
So kommentiert die Übersetzerin Mirjana Wittmann, die seit zwanzig Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Wittmann David Albaharis Bücher ins Deutsche überträgt, Albaharis aktuellen Roman «Das Tierreich».
Ihr Mann fügt hinzu: «Es ist wunderbar zu sehen, wie bei David Albahari sich aus einfachen Texten heraus Ideen entwickeln und plötzlich Bezüge innerhalb des Textes hergestellt werden.»
Der nächste Literaturnobelpreisträger?
David Albahari gilt seit Jahren als absoluter Geheimtipp für den Literaturnobelpreis. Zumindest zählt er zu den bedeutendsten serbischen Autoren der Gegenwart.
In seinem aktuellen Roman führt er sein Schreiben formal und thematisch fort: Erinnerung, Heimat, Geschichte und Identität sind die Grundthemen seines Werks. Romane wie «Mutterland», «Götz und Meyer» oder «Die Ohrfeige» haben ihn bekannt gemacht.
Ein menschliches Tierreich
In seinem aktuellen Buch geht es um eine Gruppe von fünf jungen Männern, die bei der Jugoslawischen Volksarmee dienen. Diese Gruppe nennt sich «das Tierreich» – nach den Spitznamen, die sie sich gegenseitig geben:
Da ist zum Beispiel der Tiger, der namenlose Ich-Erzähler, der sich in der Geschichte, die wir als Manuskript vor uns haben, an seine Zeit beim Militär in der bosnischen Stadt Banja Luka Anfang der 1970er-Jahre erinnert. Das ist Dimitrije Donkić, der Waschbär, der Anführer der Gruppe, der sich vor allem durch seine Gewaltbereitschaft, Grausamkeit und Unberechenbarkeit auszeichnet. Nach vielen Jahren treffen die beiden im Exil in Kanada wie zufällig wieder aufeinander – eine Begegnung, die für Dimitrije tödlich endet.
Dazwischen: Erinnerungen. Erinnerungen ans Militär in Banja Luka Anfang der 1970er-Jahre, an ein jugoslawisches Regime unter Tito, das sich durch ein Netz von Verdächtigungen und Bespitzelungen über Wasser hält. Erinnerungen an die Studenten-Revolte von 1968 in Belgrad.
Und immer die Suche nach der Frage, ob der Ich-Erzähler an dem, was mit seinem Freund Mischa geschah, wirklich schuld war oder ob er nur die Rolle gespielt habe, die er, da sie ihm vom Schicksal selbst zugeteilt wurde, gar nicht hätte ändern können?
Ein dünnes und doch dickes Buch
«Das Tierreich» von David Albahari ist ein dünnes Buch von 130 Seiten, das Motive aus früheren Büchern aufgreift, und ein sehr dichtes Buch. Es ist in einem Gedankenstrom gearbeitet, ähnlich wie man es von Thomas Bernhard kennt, dessen Werk Albahari selbst übrigens als einen seiner literarischen Einflüsse bezeichnet.
Die Geschichte entzieht sich immer wieder dem Leser, weil der Erzähler nicht eindeutig ist – in seiner Haltung dem Geschehen gegenüber, in seinem Verhalten und in seiner Vertrauenswürdigkeit generell. Unterbrochen wird der Textfluss lediglich durch Anmerkungen, die das Misstrauen am Erzähler nur verstärken.
Was, wenn alles miteinander verknüpft ist?
Und: Beim zweiten Lesen werden aus Opfern potentielle Täter, aus Unsicherheit mögliche Berechnung, aus Zufälligkeiten eventuell Plan. «Kein Zufall ist wirklich zufällig», heisst es an einer Stelle.
Oder wie es der US-amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon ausdrückt: «Der Gedanke mag schrecklich sein, dass alles miteinander verknüpft ist, aber wie schwer wäre erst die Vorstellung, dass nichts mit etwas in Verbindung steht.» Nichts ist sicher in diesem Roman. Bis zuletzt. Die Verstörung ist bei Albahari Programm.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 19.02.2017, 11:03 Uhr.