Natali will nicht mehr. Aber so einfach geht das nicht: Es gilt schräge Blicke auszuhalten, ja handfest gemieden zu werden. Natali ist die Hauptfigur im zweiten Roman von Tabea Steiner.
Seit Kindsbeinen ist sie Mitglied in einer Freikirche. Da gelten klare Regeln. Vor allem, was Beziehungen, Sex und Familie betrifft – und Gott. Über Jahre hat sich Natali den konservativen Strukturen und Moralvorstellungen unterworfen.
Sie hat einen evangelikalen Mann geheiratet und ist Mutter zweier Kinder. Diese sind in der wöchentlichen «Sonntagsschule» der freikirchlichen Gehirnwäsche ausgesetzt.
Erstickende Enge
Doch in Natali wächst die Rebellion gegen die Bevormundung durch den Pfarrer, die Gemeindemitglieder und den fundamentalistischen Ehemann.
Was lässt Natali nach all den Jahren der Duldsamkeit aufbegehren? Der Roman gibt keine eindeutige Antwort. Vielleicht sind es die tiefsinnigen Gespräche, welche die Lehrerin und Teilzeit-Künstlerin mit ihrem Atelierpartner führt. Diese nähren in ihr den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Vermutlich ist aber doch Natalis aufkeimende Liebe zu einer anderen Frau die Ursache für den Bruch.
Denn: Fremdgehen, und dann noch lesbisch, ist in den Augen der Freikirchler doppelte Unzucht. Die Sünderin wird zur Persona non grata. Der bibelfeste Ehemann nimmt ihr die Kinder weg. Evakuiert sie zur Schwiegermutter.
Schwerer «Abschied im Kopf»
Der Roman schildere vieles, was auch die Forschung zu Freikirchen besage, erklärt Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne. Besonders die «Ambivalenz von Freikirchen» sei «gut getroffen».
Zwar böten Freikirchen ihren Mitgliedern Geborgenheit, soziale Kontakte und ein klares Weltbild, so Stolz. Gleichzeitig könne es für Betroffene «eng werden, wenn sie merken, dass sie nicht mehr hineinpassen».
Als besonders schmerzhaft würden Aussteigerinnen und Aussteiger den Verlust des bisherigen Beziehungsnetzes beschreiben. «Oft sind auch die Eltern und Verwandte Mitglieder der Freikirche.»
Noch belastender sei oft «der Abschied im Kopf». Aussteiger müssten eine «neue Art zu denken erlernen». Die bisherige Weltsicht, die durch ein klares Gut und Böse gekennzeichnet war, funktioniere nicht mehr.
Freikirchen behaupten sich
Freikirchen sind in ihrer Existenz dennoch weit weniger von Ausstiegen betroffen als die grossen Konfessionen. Schätzungen gehen davon aus, dass in der Schweiz bis zu 250'000 Menschen in Freikirchen organisiert sind. Diese vermögen ihre Bestände einigermassen zu halten.
Ehepaare in Freikirchen hätten tendenziell mehr Kinder, sagt Jörg Stolz. Und: «Freikirchliche Familien legen grossen Wert darauf, dass der Nachwuchs in der Kirche mittut und dabeibleibt.» Dies gelinge in mehr als der Hälfte aller Fälle.
Sprache ohne Emotion
Die fiktive Aussteigerin Natali gehört zur anderen Hälfte. Tabea Steiner schildert den dornenvollen Weg in die Freiheit mit einer nüchternen, ja unterkühlten Sprache. Passend zum Milieu, das zwar Nächstenliebe propagiert, jedoch Ungehorsam mit gnadenloser Ausgrenzung bestraft.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
«Immer zwei und zwei» ist von seelenlosem Personal bevölkert, das in Schwarz-weiss-Kategorien denkt. Einzig Natali lässt auf ihrem Weg in ein anderes Leben mehr und mehr psychische Ambivalenzen erkennen. Diese machen die Figur farbig und menschlich – als einzige dieses Romans.