Vor einigen Jahren geht in Albanien ein Foto viral: Es zeigt ein junges, lächelndes Paar. 1941 in den Flitterwochen in den italienischen Alpen. Es sind die Grosseltern der Autorin Lea Ypi. Das ihr unbekannte Bild irritiert sie: Einerseits ist es die scheinbare Unbekümmertheit ihrer Grosseltern inmitten wütender Kriegsjahre. Andererseits, weil Internetnutzer ihre Grossmutter der Spionage bezichtigen. «Was ist wahr?», fragt sich Ypi und beginnt, selbst zu recherchieren.
Die politische Philosophin macht es sich in ihrem aktuellen Buch «Aufrecht» zur Aufgabe, die Würde ihrer geliebten Grossmutter zu verteidigen. «Damals konnte meine Grossmutter für sich selbst sprechen, aber im Tod ist sie ohnmächtig und kann ihr Vermächtnis weder gestalten noch verteidigen.»
Das Dilemma der Würde
In ihrem 2022er-Bestseller «Frei» hat Lea Ypi bereits die Idee von Freiheit unter den historischen Umwälzungen in Albanien analysiert. Nun betrachtet sie in «Aufrecht» das Dilemma der Würde. So geht es dem Kommunisten um die Würde von Arbeit und dem Faschisten um die Würde der Nation. Für ihr eigenes Urteilsvermögen bedient sich Ypi auch bei Immanuel Kant.
«Ich bevorzuge den Gebrauch der Urteilskraft, das freie Spiel von Gefühl und Vernunft, die allmähliche Befreiung aus den geerbten Banden von Familie, Nation und instinktiver Zugehörigkeit. Ich nehme mich selbst zu ernst, könnte man an dieser Stelle einwenden. Dennoch, um klar zu sehen, müssen wir uns unserer Vorstellungskraft bedienen», heisst es dazu im Buch.
Mit Archivmaterial und Fantasie
Lea Ypi zeichnet die weiblichen Perspektiven ihrer Grossmutter, deren Tante und Freundin, nach. Das multikulturelle Albanien befreit sich in der damaligen Zeit von der türkischen Herrschaft, dann von der deutschen. Und schliesslich rutscht das Land in eine kommunistische Diktatur.
Mit zusammengesuchten Informationen aus Archiven, Familiengesprächen und ihrer eigenen Fantasie erschafft Ypi lebendige Figuren und fesselnde Geschichten, so wie die, dass ihre Grossmutter Leman scheinbar alles verliert.
«Auf einmal wurde Leman wütend. Natürlich hatte auch sie an Selbstmord gedacht. Sie hatte sich sogar schon überlegt, wie sie es anstellen würde. Sie würde sich an einer Angelschnur erhängen. Je spezifischer der Plan, desto ernster die Absicht.» Dennoch war Selbstmord in Lemans Fall wohl eher ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Denn, «wer hatte ihr gestattet, sich zu benehmen, als käme es allein auf ihre Wünsche an?»
Lea Ypi durchpflügt zahlreiche Akten in albanischen, griechischen und französischen Archiven. Sie zitiert daraus und zeigt Tücken auf: Es fehlt vor allem an Aufzeichnungen von Frauen, da sie oft unter männlicher Vorherrschaft standen. Ypi füllt die Lücken und das Schweigen mit ihrer eigenen Fiktion. Entstanden ist viel Lesenswertes, eine bewegende Emanzipationsgeschichte, ein spannendes Geschichtsbuch und ein philosophisches Gedankenexperiment.