- In seinem neuen Roman erzählt der bosnisch-kroatische Schriftsteller Miljenko Jergović von seiner Familie.
- Um die zentrale Handlung siedelt Jergović ein Geflecht aus Erzählungen an, in denen sich die Geschichte der Region spiegelt.
- Eine essentielle Botschaft des Romans: Ohne den Anderen, sei dieser nun Freund oder Feind, gibt es keine eigene Existenz.
Es sind mehr als tausend Seiten, die diese Geschichte braucht. Und man hat in keinem Moment das Gefühl, es seien zu viele.
Immer und immer wieder werden die einzelnen Geschichten erzählt, wiederholt, anders erzählt, anders gesehen, nochmals berichtet, die das Wesen dieser Familie ausmachen und ihren letzten und einzigen noch lebenden Vertreter, Miljenko Jergović, geprägt haben.
Der Onkel stirbt, Hitler verliert
Im Zentrum all dieser Geschichte steht die Geschichte seines Onkel Mladen, der im zweiten Weltkrieg als SS-Mann fällt. Ein blöder und sinnloser Tod. Mladens Eltern, Franjo und Olga, Miljenkos Grosseltern Nonno und Nonna, sympathisieren mit den Partisanen.
Sie schicken ihren deutschstämmigen Sohn aber zur SS, weil sie davon ausgehen, dass er dort eher überlebt, obwohl sie nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass Hitler diesen Krieg verlieren wird.
Doch Mladen fällt als erster und einziger seiner Truppe, während seine Kameraden zu den Partisanen überlaufen. Manche von ihnen werden nach Kriegsende Mladens Eltern besuchen. Sie gehören jetzt zur Befreiungsarmee. Franjo und Olga aber werden zu den Eltern eines Feindsoldaten.
Panorama einer Region
Darüber kommt Olga nicht hinweg. Sie wird Atheistin und – viel schlimmer noch – sie lässt ihre Wut über den Verlust des Sohnes an der viel jüngeren Tochter aus. Sie lehnt sie ab. Die Tochter wiederum wiederholt das Verhalten bei ihrem eigenen Sohn und lässt ihn bei seinen Grosseltern aufwachsen. Dieser Sohn ist Miljenko Jergović, der Ich-Erzähler dieses Romans.
Um diese eine zentrale Geschichte herum befinden sich hunderte anderer Geschichten, die alle zusammen wiederum die Geschichte dieser Region erzählen: Diese einst «Jugoslawien» genannte Gegend auf dem Balkan mit ihren Serben und Kroaten, Deutschen und Juden, Österreichern und Italienern, Slowenen und Bosniern, Ustasche und Tschetniks, Faschisten und Partisanen, Monarchisten und Kommunisten, Nationalisten und Demokraten. Menschen, die gekommen und gegangen sind.
Ankommen und fliehen
Die Erzählungen wiederum werden zusammengehalten von einer Zeitachse, an deren Anfang ein gewisser Karlo Stubler aus dem Banat nach Bosnien einwandert, um für Franz Josephs neue Eisenbahn zu arbeiten. Und an deren Ende ein gewisser Miljenko Jergović unfreiwillig in Zagreb sitzt, weil er während der Belagerung Sarajevos 1993 seine Stadt fluchtartig verlassen musste.
Diese Zeitachse steht für diese Region, mit ihrer nationalistischen und multiethnischen Seite. Miljenko Jergović gehört ganz sicher nicht zur nationalistischen. Eins ums andere Mal beschreibt er seinen Urgrossvater Karlo, den Banatschwaben aus Rumänien, der seine serbischen Nachbarn vor den kroatischen Faschisten versteckt.
Nicht, weil er ein besonders grosser Menschenfreund wäre, sondern weil er als Deutscher die Serben braucht, um sich als Deutscher zu fühlen. Genauso wie die Kroaten, die Bosnier, die Slowenen, die Österreicher, Italiener und Juden. Und alle anderen auch.
Der Andere macht das Eigene aus
Miljenko Jergović ist mit «Die unerhörte Geschichte meiner Familie» ein grossartiges Werk geglückt. Nicht nur weil die behauptete Familiengeschichte Literatur ist. Sondern auch weil er gegen Krieg und Gewalt eine Toleranz stellt, die nicht wie so oft aus leeren Worten besteht, sondern aus der Idee, den Anderen als Bedingung für die eigene Existenz zu sehen. Und sei der Andere der schlimmste Feind, den man sich nur denken kann.
Die Region, aus der Miljenko Jergović stammt, braucht auch zwanzig Jahre nach dem letzten Krieg eine solche Erkenntnis. Uns «ach so toleranten» deutschsprachigen Leserinnen und Leser kann sie aber auch nicht schaden.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 11.6.17, 11:03 Uhr