Was ist passiert? Nichts Spektakuläres. Linn hielt einen Vortrag, kippte um und musste für ein paar Tage ins Krankenhaus. Danach ist es, als hätte man ihr den Stecker gezogen. Trotzdem schafft sie es, Job und Wohnung zu kündigen und all ihre Habe zu verkaufen: Tabula rasa.
Sie zieht wieder zur Mutter nach Nordfriesland und verkriecht sich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer. Anfänglich bringt die Mutter nichts aus ihr heraus. Mit der Zeit wird klar: Linn hält ihre Arbeit für hoffnungslos. «Klimaschutz» sei schon fast ein Unwort geworden, die Klimakrise werde zumeist verleugnet, auch liessen sich gute Geschäfte mit ihr machen.
Widerstandskraft am Wattenmeer
Linn kehrt allerdings nicht in eine Idylle zurück. Die Halbinsel am nordfriesischen Wattenmeer entvölkert sich. Viele der alten Häuser stehen wegen des Klimawandels zu nahe am Wasser und können kaum noch verkauft werden.
Für Kristine Bilkau ist die Gegend besonders: «Die Naturgewalten haben sich immer wieder in diese Region eingeschrieben. Daher ist sie ein wunderbarer Raum, um vom Verhältnis von Mensch und Natur zu erzählen. Es geht um Umbrüche, Verletzbarkeiten, aber auch um Widerstandskraft, sowohl der Natur als auch der Menschen.»
Verheerende Flut
Eigentlich ist das Wattenmeer flach wie ein Teller. Aber es kam immer wieder zu verheerenden Sturmfluten. Jene von 1362 radierte einen ganzen Landstrich aus. Zehntausende Menschen starben. Bei Ebbe finde man noch heute Spuren ihrer Leben – Tonscherben, Ziegelsteine, Tierknochen –, sagt Bilkau.
«Wir werden immer aufs Neue an diese Flut und unsere eigene Verletzbarkeit gemahnt. Wir werden aber auch an den Trotz erinnert, der sich zeigte, wenn Menschen sich diese Region zurückholten. Mit Deichen, Gräben und Sperrwerken versuchten sie immer wieder, sich das Land anzueignen», so Bilkau.
Zentrale Frage
Verletzbarkeit und Trotz – Kristine Bilkau ist in ihrem Roman «Halbinsel» ganz nah am Alltag ihrer Figuren und spannt ein Netz von Geschichten aus, die grosse Fragen stellen: Wie kommt man zurecht? Was kann man ausrichten? Worauf kann man sich verlassen? Wie erzeugt man Sinn? Ausgangspunkt war allerdings eine andere Frage.
Am Anfang habe für sie die Frage gestanden: «Wie bringt man ein Kind in diese krisengeschüttelte Welt?» Sie habe gewusst, dass im Zentrum für sie eine Mutter stehe, die darum ringt, die Zuversicht für ihre Tochter zu retten und die diese Zuversicht auch für sich selbst braucht. «Denn die Tochter sehnt sich nach etwas anderem, nach Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Das ist ein Konflikt, den ich interessant fand», sagt Bilkau.
Raum zum Nachdenken
Linn, Annetts Tochter, lässt ihre berufliche Enttäuschung hinter sich, indem sie vorerst im Laden der Dorfbäckerei arbeitet. In dieser für sie ehrlichen Tätigkeit findet sie Raum, nachzudenken: Wie dreht das politische, gesellschaftliche, aber auch ihr persönliches Räderwerk, wenn es darum geht, Verhalten zu ändern, Konflikte zu lösen und Verantwortung fürs Gemeinwohl zu übernehmen?
«Halbinsel» hat keine Rezepte parat. Aber der Roman entwickelt einen weiten Assoziationsraum. Leise und beharrlich handelt er von Themen, die uns alle berühren – wie wir das Leben meistern, wie wir mit Ohnmachtsgefühlen umgehen, wie wir uns unseren Ängsten stellen.