Was kann psychische Erkrankungen verstärken oder gar auslösen? Dieser Frage geht der deutsch-österreichische Autor und Psychologe Leon Engler in seinem Debütroman nach. «Botanik des Wahnsinns» heisst das beachtenswerte Buch.
SRF: Herr Engler, mehrere Verwandte der Hauptfigur in Ihrem Buch litten oder leiden an einer psychischen Erkrankung. Ihr Protagonist fürchtet einen Familienfluch. Er hat Angst, ebenfalls «verrückt» zu werden. Wie berechtigt ist diese Angst?
Leon Engler: Ziemlich. Alkoholabhängigkeit etwa ist zu 50 Prozent genetisch beeinflusst. Bipolare Störungen sind zu 80 Prozent durch Erbanlangen bestimmt. Auch das Risiko, an einer Depression zu erkranken, steigt, wenn nahe Verwandte darunter leiden.
All diese Krankheiten kommen im Stammbaum Ihres Protagonisten vor.
Genau. Und dann erinnert er sich an den Biologie-Unterricht, an die Vererbungslehre, bei der er gelernt hat: Die Nachkommen von Erbsen sind Erbsen, die Nachkommen von Meisen sind Meisen. Er kommt zu dem Schluss: «Es sieht nicht gut für mich aus.»
Als Reaktion auf diese Erkenntnis tritt Ihr Protagonist die Flucht nach vorn an: Er beschäftigt sich intensiv mit den Krankheiten und ihren Ursachen. Was lernt er dabei?
Er lernt, dass es zwar genetische Komponenten gibt, aber dass auch politisch-gesellschaftliche Faktoren eine Rolle spielen. Der Vater des Protagonisten zum Beispiel wurde mehrfach wegen Eigenbedarfs aus der Wohnung geworfen. Irgendwann musste er seine Heimat ganz verlassen, weil er sich dort nichts mehr leisten konnte. Ist es da verwunderlich, depressiv zu werden? Eigenartiger wäre es doch, wenn er gut drauf wäre.
Traumata oder emotionale Altlasten schlagen sich nieder in der Art zu kommunizieren, sich zu binden, in der Art zu erziehen.
Etwa 350 Millionen Menschen weltweit leiden an Depressionen; das ist ein epidemisches Ausmass. Ich halte es für falsch, davon alle als Einzelfälle abzutun. Armut ist einer der grössten Risikofaktoren für Depressionen.
Im Buch beschreiben Sie die Lebensläufe mehrerer Familienmitglieder. So wird nachvollziehbar, welche Umstände die Mutter haben alkoholsüchtig werden lassen oder den Vater depressiv. Zudem erfährt man viel über die transgenerationale Weitergabe psychischer Leiden.
Das war mir wichtig zu zeigen: Es gibt die rein biologisch-genetische Komponente der Vererbung, aber auch die soziale. Traumata oder emotionale Altlasten schlagen sich nieder in der Art zu kommunizieren, sich zu binden, in der Art zu erziehen. So etwas kann sich immer weitertragen.
Das Buch ist keine Autobiografie, aber die Figur des Grossvaters beispielsweise ist meinem eigenen Grossvater nachempfunden.
Die Psychoanalytikerin Fanita English sprach in diesem Zusammenhang von «hot potatoes», also heissen Kartoffeln. Niemand will sie anfassen, sich daran die Finger verbrennen, und so werden sie von Generation zu Generation weitergereicht. Insbesondere in der Generation meiner Grosseltern habe ich das beobachtet: dass vieles unausgesprochen blieb.
Ihr Protagonist heisst Leon, wie Sie. Im Verlauf des Romans lässt er sich zum Psychotherapeuten ausbilden, wie Sie. Darf ich fragen, wie viel Leon Engler in diesem «Leon» steckt?
Es ist eine Mischung aus Recherche, Fiktion und eigener Erfahrung. Deshalb: Das Buch ist keine Autobiografie, aber die Figur des Grossvaters beispielsweise, die ist meinem eigenen Grossvater nachempfunden. Er hat viele Jahre in der Wiener Psychiatrie Steinhof verbracht. Ich habe seine Krankenakten gelesen, Hunderte von Seiten. Er hatte ein leidvolles Leben.
Herr Engler, jetzt, nach dem Schreiben des Buches, was würden Sie sagen, ist «normal»?
Keine Ahnung. Das ist eine Kategorie, mit der ich inzwischen überhaupt nichts mehr anfangen kann.
Das Gespräch führte Katja Schönherr.