Gemäss neustem Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums sind psychische Störungen weitverbreitet. Mitherausgeber und Psychiater Urs Hepp weiss, was darunter fällt.
SRF News: Fast die Hälfte der Bevölkerung ist mindestens einmal im Leben depressiv oder hat eine Phobie. Das wissen wir aber nur, weil die Betroffenen das selbst freimütig angeben ...
Urs Hepp: Die Ergebnisse stützen sich tatsächlich auf Befragungen. In solchen Interviews und Fragebögen geben die Leute erfahrungsgemäss recht offen Auskunft.
Haben psychische Krankheiten wirklich zugenommen?
In der Schweiz haben wir wenig verlässliche Daten. Zwar scheint die psychische Belastung bei Jungen gestiegen zu sein, wir haben aber keine Hinweise darauf, dass psychische Krankheiten generell zugenommen hätten. Behandlungen hingegen haben in den vergangenen zehn Jahren klar zugenommen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es mehr psychische Erkrankungen gibt. Sondern: Es gibt mehr Angebote und die Leute gehen eher in die Behandlung. Das ist eigentlich eine positive Entwicklung.
Wie ist es bei schweren psychischen Erkrankungen?
Das ist immer etwas schwierig: Was heisst schwere psychische Erkrankung? In der Forschung meint man damit vor allem Schizophrenien und bipolare Störung. Aufgrund der Behandlungen wissen wir, dass diese Krankheiten in der Schweiz nicht zugenommen haben.
Wir wissen nicht, warum jemand zum Psychiater geht.
Warum gibt es keine klareren Daten?
Wir wissen nur, wie viele Menschen wegen Schizophrenie in einer Klinik waren, nicht aber, warum jemand zum Psychiater geht. In den Gesundheitsbefragungen kann man Depressionen gut erfragen. Aber Schizophrenien sind relativ selten, da ist es schwierig und aufwendig, verlässliche Daten zu erheben.
Eine Studie, die nach Fertigstellung des Gesundheitsberichts publiziert wurde, kommt zum Schluss, junge Lernende seien zwar psychisch belastet, aber zufrieden mit der Lehre. Kann man also auch mit einer psychischen Krankheit arbeiten?
Grundsätzlich können die meisten Menschen trotz einer psychischen Krankheit arbeiten. Sonst würde unsere Wirtschaft zusammenbrechen. Viele Lernende haben angegeben, dass sie zwar psychisch belastet sind, aber gerne arbeiten und stolz auf ihre Lehre sind. Arbeiten ist auch eine Ressource. Insofern ist es problematisch, dass viel mehr junge Menschen wegen psychischer Probleme eine IV-Rente bekommen. Man muss schauen, dass sie die Lehre abschliessen können, auch wenn sie psychisch belastet sind.
Suizidprävention ist eine Erfolgsgeschichte.
… weil Arbeit für die psychische Gesundheit wichtig ist?
Ja, wenn man arbeitet, ist man in der Gesellschaft integriert und bekommt Anerkennung. Für das psychische Wohlbefinden ist das gut.
Man könnte meinen, auch Suizide seien ein Indikator für psychische Belastung. Doch Suizide sind erheblich zurückgegangen.
Ja, das kann man weltweit beobachten – mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel den USA. Mehr Menschen nehmen Behandlungen in Anspruch. Und wir haben den Zugang zu Schusswaffen erschwert, Haushaltsgas entgiftet und Prävention bei den Schienen betrieben. Eigentlich ist es eine Erfolgsgeschichte: Die Suizidprävention wirkt.
Zurück zum Bericht: Wovon sprechen wir also, wenn wir sagen, fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung ist einmal im Leben «psychisch krank»?
Eine wichtige Botschaft des Berichts ist: Psychische Erkrankungen betreffen nicht den Rand der Gesellschaft, sondern uns alle. Sie sind ein gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft und mit dem wir einen Umgang finden müssen.
Das Gespräch führte Sibilla Bondolfi.