Fernsehsender CBS, Samstagmorgen, 1958. Der Vorspann zeigt wie Eltern und ihre Kinder in Sonntagskleidung in die Carnegie Hall strömen. Aufgeregter Applaus. Der Maestro betritt die Bühne, locker die Hände in den Hosentaschen. Mit einem breiten Grinsen begrüsst er sein Publikum wie einen alten Freund: «Ich habe euch vermisst.»
Für die nächsten 55 Minuten wird er in einer Mischung aus Konzert und Vorlesung enthusiastisch, klug und fantasievoll erklären, was gute Orchestrierung von schlechter Orchestrierung unterscheidet ( Youtube-Video ).
Er wird auf eine riesige Partitur zeigen, sich in Komponisten wie Rimsky-Korsakov, Bach oder Mozart hineinfühlen und sein Publikum zum Singen bringen. Am Ende zweifelt niemand mehr daran, dass Musik etwas Existenzielles ist.
Was bedeutet Musik? Was ist Melodie? Was ist Humor in der Musik? Wie viel Interpretationsspielraum hat ein Dirigent? Diese Fragen stellt Leonard Bernstein in seinen «Young People’s Concerts».
Stets am Kern der Musik
In seinen Erklärungen streift er ganz selbstverständlich komplexe musikwissenschaftliche und musikphilosophische Themen. Dabei bleibt er immer ganz nah am Musikalischen.
Das ist seine Absicht, sagte er einmal: «Wenn wir versuchen, Musik zu ‹erklären›, dann müssen wir die Musik erklären und nicht das ganze Drumherum von aussermusikalischen Dingen, die sich parasitär der Musik anhaften.»
Die Berner Musikvermittlerin Barbara Balba Weber hält Leonard Bernstein für einen begnadeten Redner, bei dem die Begeisterung für Musik aus jeder Pore sprüht.
«Fachlich und didaktisch unterscheidet er sich zwar kaum von einem guten Musiklehrer am Gymnasium», sagt sie. «Aber seine Präsenz ist unvergleichlich: Er steht nicht nur als Dirigent vor dem Orchester, sondern als umfassender Musiker und vor allem: als Mensch.»
Die Liebe zum Lernen
«Lenny» überlässt das Erklären nicht den Pädagoginnen und Pädagogen, sondern ist selbst der Geschichtenerzähler. Dabei schafft er es immer wieder an die Lebenswelt seines jungen Publikums – Kinder von 8 bis 13 Jahren – anzuknüpfen.
Ein Baum, der trotz der verschiedenen Jahreszeiten doch immer derselbe Baum bleibt, verdeutlicht für ihn die sinfonische Musik. Ein Bach-Präludium vergleicht er mit einem Boxkampf.
Das Schmeichelnde und Sanftmütige an der impressionistischen Musik erklärt er, indem er eine Zubettgeh-Szene nachzeichnet: Der Vater sei erfolgreicher darin, seine Kinder ins Bett zu schicken, wenn er sie freundlich mit der frischen weissen Bettwäsche, dem weichen Kissen und den süssen Träumen lockt anstatt harsch «Ab ins Bett!» zu befehlen.
Auch wenn solche Metaphern darauf hindeuten: Mit den «Young People’s Concerts» richtet sich Leonard Bernstein beileibe nicht nur an Kinder, seine Zielgruppe ist grösser. «Ich schreibe sie für ein intelligentes Gemeinwesen, das sich nach Einsicht und Wissen sehnt», sagte er.
Weil er an diesen natürlichen Wissenshunger glaubt, kann er darauf vertrauen, dass man ihm Gehör schenkt: «Obwohl ich es nicht beweisen kann, weiss ich tief im Innern, dass jeder Mensch mit der Liebe zum Lernen geboren wird.»
Enkel eines Rabbis
Die Liebe zum Lernen setzt Leonard Bernstein auch im Alltag voraus, erzählen seine Kinder Jamie, Alexander und Nina Bernstein.
Dass ihr Vater permanent am Dozieren ist, geht ihnen mitunter auf die Nerven, sagt seine älteste Tochter Jamie Bernstein, Jahrgang 1952: «Er war ein zwanghafter Lehrer!»
Die jüngste Tochter Nina Bernstein führt das Sendungsbewusstsein ihres Vaters auf seinen familiären Hintergrund zurück. Bernsteins Grossvater war Rabbiner in Ròwno im Gebiet der heutigen Ukraine. Sein Vater emigrierte um 1910 in die USA.
«Seine Liebe zum Erklären kommt wohl aus der Rabbiner-Tradition», sagt Nina Bernstein. «Wenn ihn die Musik nicht so eingenommen hätte, wäre er wohl Rabbi geworden.»
Locker und durchgetaktet zugleich
In den «Young People’s Concerts» kommt Bernstein spontan, charismatisch und locker rüber. Aber für jede Sendung liegt ein ausformuliertes Skript vor, das er mit dem Regisseur und den Produzenten der Sendung genaustens abgesprochen und dramaturgisch durchgestaltet hat.
Als Testpublikum dienten ihm nicht nur seine Assistenten, sondern auch seine Kinder, sagt Jamie Bernstein: «Wir waren die Versuchskaninchen für seine Ideen und Scripts.»
«Es geht um Noten!»
Heute veranstaltet Jamie selbst Familienkonzerte. Früher sass sie jeweils im Publikum der «Young People’s Concerts» in der Carnegie Hall und im Lincoln-Center.
In der Ausgabe «What does music mean?» ( Youtube-Video ) von 1958 philosophiert Bernstein über die Bedeutung von Rossinis berühmter Tell-Ouvertüre und spricht dabei seine Tochter und das Publikum direkt an:
«Meine fünfjährige Tochter Jamie, die dort oben sitzt, ist mit euch einverstanden. Als sie mich das Stück spielen hörte, sagte sie: ‹Das ist der Lone Ranger Song, hi-ho Silver!›. Ich enttäusche sie ungern und euch auch nicht, aber es geht überhaupt nicht um den einsamen Ranger. Es geht nur um Noten!»
Zuhören oder abschweifen?
In den Fernsehübertragungen fängt die Kamera nur Kinder ein, die aufmerksam zuhören und brav auf ihren Stühlen sitzen. Jamie Bernstein hat das anders in Erinnerung: «Da waren immer auch Kinder, die die Seiten aus dem Programmheft rissen und Papierflieger von den Emporen haben fliegen lassen», erzählt sie.
Vielleicht waren diese Kinder überfordert. Etwa in Momenten, in denen Bernstein sieben Minuten am Stück redet oder in rasendem Tempo von der verminderten siebten Stufe im mixolydischen Modus spricht.
Das bahnbrechende an den «Young People’s Concerts» von Leonard Bernstein war seine Offenheit: Für ihn gibt es keine U- und E-Musik, keine Hierarchie zwischen den Musikgenres, sondern allein «gute und schlechte» Musik.
So bezieht er in seine Kinderkonzerte selbstverständlich Popmusik und Jazz mit ein und bedient sich zum Beispiel an «I Love Her» von den Beatles, um die Arienstruktur von Bizets «Carmen» zu erklären.
Über Popmusik Kinder an klassische Musik heranführen – das ist nicht nur eine Taktik von Leonard Bernstein. Popmusik und Jazz gehören zu seinem Leben: Während seiner Kindheit hörte er begeistert Radio, als er in Harvard studierte, verdiente er sein Geld als Jazzpianist, und als Komponist bezog er Popmusik immer wieder in seine Werke ein.
Kein Wunder, sagte er einst: «Popmusik scheint das einzige Gebiet zu sein, auf dem unerschrockene Lebenskraft, Freude an der Eingebung und ein Sturm frischer Luft zu spüren sind. Alles andere wirkt plötzlich altmodisch.»
Meister und Verkünder
Die Überzeugung, dass Musik universell und die Genres Jazz, Pop und klassische Musik gleichwertig seien, sei sehr fortschrittlich für die damalige Zeit gewesen, sagt die Musikvermittlerin Barbara Weber.
«Trotzdem orientierte sich Bernstein immer am Bildungsbürgertum und er inszenierte sich als Meister und Verkünder von Wahrheiten.»
Sein Publikum vor Ort bestand vor allem aus Kindern höherer Schichten. Für sie – und für ihre Eltern – wurde der Besuch der «Young People’s Concerts» zum Statussymbol: Die Wartelisten für die Konzerte waren so lang, dass manche Eltern ihre Kinder schon zu Geburt einschrieben.
Aber das Fernsehen ermöglichte ihm, die Veranstaltung auch anderen Schichten zugänglich zu machen.
Erfolg im Fernsehen
Als Bernstein 1958 zum Chefdirigenten des New York Philharmonic berufen wurde, übernahm er die «Young People’s Concerts» nur unter der Bedingung, dass sie auch im Fernsehen übertragen werden. Dahinter steckte nicht Narzissmus, sondern der Gedanke an kulturelle Teilhabe.
Die nötige Fernseherfahrung dafür hatte Leonard Bernstein bereits. Mit 35 Jahren stand er zum ersten Mal vor der Kamera, für das Format «Omnibus» – ein wöchentliches Bildungsprogramm auf ABC und CBS, für das Bernstein drei Folgen gestaltete.
Mit seiner Idee, die «Young People’s Concerts» über das Fernsehen in die heimischen Wohnzimmer zu holen, traf den Nerv der Zeit: 1960 hatten bereits neun von zehn Amerikanerinnen und Amerikanern ein Fernsehgerät.
Es gab drei Kanäle und die Programmchefs waren hungrig nach Inhalten. Als Fernsehformat wurde die Konzertreihe zum Erfolg: Wegen der hohen Einschaltquoten wurden die «Young People's Concerts» 1964 – mittlerweile in Farbe – von Samstagmorgen auf die Primetime am Abend verlegt. Sie waren in über 40 Ländern zu sehen, teilweise synchronisiert.
Jamie Bernstein sagt, dass es heute nichts Vergleichbares gäbe: «Keine Familie setzt sich heute geschlossen hin und schaut auf einen Bildschirm – man hat ja mehr Bildschirme zu Hause als man an zwei Händen abzählen kann! Selbst wenn es heute einen Leonard Bernstein gäbe – der Effekt wäre nicht der gleiche, weil sich die Welt verändert hat.»
Meilenstein in der Musikvermittlung
Das reine Konzert-Erklärformat ist in der heutigen Musikvermittlung immer seltener geworden. Und aus dem Fernsehen ist es erst recht verschwunden.
Familienkonzerte seien heute dramaturgisch komplexer gestaltet, sagt die Musikvermittlerin Weber. «Ausserdem haben sie einen niedrigeren Wortanteil und setzen auf Interaktion und Partizipation.»
«Dass Bernstein der einzige ist, der redet, dass die Orchestermusiker stumm und die Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen bleiben und auch die Idee, dass der wissende Hörer der bessere Hörer ist, das ist heute veraltet. Aber Bernstein bleibt ein wichtiger Referenzpunkt und Persönlichkeiten wie ihn findet man in der Welt der Musikvermittlung sehr selten.»
Und Leonard Bernstein selbst? Weil er in den «Young People’s Concerts» seine Gefühle für und sein Wissen über Musik zu teilen vermochte, bezeichnete er die Kinderkonzertreihe als die Quintessenz seines Schaffens als Dirigent und Musiker.
Eins ist ihm mit den 53 Sendungen auf jeden Fall gelungen: die klassische Musik etwas weniger elitär zu machen.