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Emanzipation oder Ausbeutung So toxisch ist die Groupie-Kultur wirklich

Die romantische Verklärung von Groupies ist Geschichte. Nicht erst seit dem Rummel um Rammstein zeigt sich: Hinter dem Mythos steckt ein System von Macht und Manipulation. Ein ehemaliges Groupie erzählt.

Zum Mythos der Rockmusik «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll» gehören auch die Groupies. Viele Frauen empfanden es früher als Akt der Emanzipation, mit berühmten Männern Sex zu haben. Einige von ihnen, etwa Lori Maddox, Pamela des Barres und Uschi Obermaier, sind bis heute fester Teil der Musikgeschichte.

Fotomodell Uschi Obermaier posiert auf der Wiese.
Legende: Das Model Uschi Obermaier wurde während der 68er-Bewegung als Verfechterin der sexuellen Revolution bekannt. In ihrer Autobiografie «Das wilde Leben» gibt sie an, Liebesaffären mit Mick Jagger und Jimi Hendrix gehabt zu haben. Getty images/Ullsteinbild

Auch Roxana Shirazi war in der Groupie-Szene unterwegs. Die heute 49-Jährige hat Anfang der 2000er-Jahre viele Rockstars kennengelernt, hatte Beziehungen mit Mitgliedern von Guns N’Roses, Skid Row oder Buckcherry und war mit diversen Bands auf Tour. Später hat sie sogar ein Buch geschrieben über ihre Erfahrungen.

Geblendet vom Rockstar-Mythos

Dabei wurde sie eher zufällig zum Groupie, zunächst war Roxana Shirazi lediglich Rockfan. Shirazi wurde im Iran geboren und flüchtete mit ihrer Grossmutter in den 1980er-Jahren nach der iranischen Revolution nach Grossbritannien. Da war sie erst zehn Jahre alt.

Sie fühlte sich einsam in dem neuen Land. Musik gab ihr ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit. Mit 14 Jahren verliebte sie sich dann in die Rockmusik. «Für mich war das ein Ort der Rebellion, wo man einfach wild und verrückt sein darf. Das hat mich angezogen.»

Die Autorin Roxana Shirazi posiert im Bett. Hinter ihr hängt ein Bild schief.
Legende: In ihren Memoiren «The Last Living Slut» (2010) gibt die Autorin Roxana Shirazi Einblicke in ihr Leben: von einer traditionell erzogenen Iranerin zum freizügigen Rock ’n’ Roll-Groupie. Getty Images/Andrew H. Walker/Staff

Als sie Mitte 20 ist, lud eine Freundin sie zum Abendessen ein. Deren Freund war der damalige Manager der Band Stereophonics. Der Drummer der Band, Stuart Cable, war auch da. Und er machte mächtig Eindruck auf Roxana Shirazi: «Ich hatte nie zuvor jemanden wie ihn getroffen: Er war ein Freigeist – wild, lustig, charismatisch und verrückt. In dieser Nacht hatte ich Sex mit ihm.»

Roxana Shirazi möchte am Rockstar-Lifestyle teilhaben: ging an Konzerte, wartete vor dem Tourbus auf die Band oder sprach die Security an: «Auf die Frage ‹Wer zum Teufel bist du?› habe ich geantwortet: ‹Ich bin das Entertainment der Band. Lass mich rein!›»

Sie tun alles, um ihren Idolen zu gefallen

Doch um Musiker zu treffen und mit ihnen Spass – insbesondere Sex – zu haben, gab sie sich als jemand anderes aus. Sie sei eigentlich ein Bücherwurm gewesen, sagt sie. Aber: «Wenn ich dort als intellektuelle Streberin aufgetaucht wäre, hätte ich niemals so viel Sex haben können, wie ich wollte. Ich erzählte, ich sei Italienerin – bin aber Iranerin. Ich erzählte, ich sei Stripperin. Doch ich war Journalistin und Autorin», erklärt Shirazi. 

Du hast als Frau in dieser Szene keine Rechte. Es gibt kein Mitgefühl.
Autor: Roxana Shirazi Ehemaliges Groupie und Autorin

Roxana Shirazi versuchte, einem Groupie-Stereotyp zu entsprechen. Dabei würde sie sich selbst gar nicht als Groupie bezeichnen. «Ich bin zu wild, um ein Groupie zu sein!» Den Begriff des Groupies empfand sie als einschränkend. Sie wollte genauso viel Spass haben wie die Rockstars und sich nicht in eine unterwürfige Rolle fügen. «Ich wollte diejenige sein, die sich die Männer aussucht. Ich wollte tun, was Rockstars taten – verrückt sein und rebellisch.»

Ursprung in der sexuellen Revolution

Ein Groupie ist meist ein weiblicher Fan, der mit der Group – also der Band – herumhängt und seinen Idolen möglichst nahe sein möchte. Das heisst nicht immer Sex. Aber oft.

Seinen Ursprung hat das Groupie-Dasein in der sexuellen Revolution Ende der 1960er-Jahre: mit der Befreiung von althergebrachten Moralvorstellungen. Groupies standen damals für den Ausbruch aus patriarchalen Strukturen. Sie entschieden sich für das wilde, freie Leben an der Seite berühmter Musiker. Und doch führte sie das oft vom sexistischen Regen in die misogyne Traufe.

Die Kehrseite der Medaille

Auch Roxana Shirazi hat die Schattenseiten des Groupie-Seins miterlebt. Anfang der 2000er-Jahre brach sie die Groupie-Regel-Nummer-1 und verliebte sich: In Dizzy Reed, den damaligen Keyboarder der Hard-Rock-Band Guns N’Roses. «Dizzy hat mich mit Liebe überschüttet. Dann war ich schwanger und plötzlich verdrehte er alles. Er hat mir furchtbare Nachrichten geschrieben.» Roxana Shirazi spricht von emotionalem Missbrauch, von Psychoterror. Auf Druck des Musikers trieb sie ab.

Dizzy Reed mit Sonnenbrille auf der Bühne.
Legende: Knallharter Keyboarder: Nach einer Affäre mit Roxana Shirazi lässt der Rocker das Groupie fallen. In einer Textnachricht soll Dizzy Reed ihr noch mehr Abtreibungen gewünscht haben. IMAGO / ZUMA Wire

Ihre Mutter und ihre Freunde unterstützten sie. Gleichzeitig bekam sie zu spüren, wie frauenfeindlich der Rock ’n’ Roll ist. «Die Rock-Community hat mich wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt», sagt Shirazi. «Du hast als Frau in dieser Szene keine Rechte, du darfst nicht über deine Erlebnisse sprechen oder dich gar beschweren. Es gibt kein Mitgefühl.»

Für sie sei damals eine Welt zusammengebrochen, so Shirazi: «Ich dachte immer, Rock ’n’ Roll sei ein freigeistiger und glücklicher Ort für alle, nicht nur für Männer.»

Weibliche Fans werden als naiv wahrgenommen

In der Figur des Groupies überlagern sich Momente der Emanzipation und Momente der Ausbeutung. Ermöglicht wird dies durch ein Machtgefälle, das seit jeher zwischen Stars und ihren Fans besteht, erklärt Sonja Eismann. Die Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sich mit Machtmissbrauch in der Rock- und Popkultur.  

Zum Rockmythos «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll» gehöre ein heroisches Bild des männlichen Rockstars. Dass dieser Grenzen überschreite und seine Macht ausnutze, erscheine vielen auch 2023 noch völlig normal, so Eismann.

David Bowie posiert auf der Bühne mit Gitarre.
Legende: Die Unantastbaren: Rockmusiker wie David Bowie konnten sich einiges erlauben. Empörung über ihr Verhalten gegenüber weiblichen Fans gab es selten. Getty Images/Rob Verhorst

Stereotypisierungen von weiblichen und männlichen Fans, trügen ausserdem zur Legitimierung dieses Rocker-Bildes bei: «Weibliche Fans werden immer als emotional naiv wahrgenommen, männliche eher als Fans der Sache und nicht als blinde Bewunderer eines Idols.»

Soll heissen: Der weibliche Fan wird schnell als Groupie abgestempelt, der eine romantische Beziehung zu einem männlichen Star sucht. «Das unterstellt man männlichen Fans nie. Bei ihnen geht es stattdessen darum, dass sie eine tolle Expertise haben, alle Gitarrenriffs und Songs kennen und irgendwelche Spezial-Vinylpressungen zu Hause haben.»

Macht, Emotion, Manipulation

Für weibliche wie männliche Fans mag es wie das grosse Glück erscheinen, wenn sie am Konzert mit ihren Idolen in nahen, mitunter hautnahen, Kontakt kommen dürfen. Zum Problem wird das dann, wenn ihre Begeisterung und Naivität ausgenutzt und sie manipuliert werden. Oder gar Drogen im Spiel sind – wie bei der Band Rammstein. So lauten zumindest die Vorwürfe gegen den Frontmann Till Lindemann.

Fall Rammstein: Das sind die Vorwürfe und erste Konsequenzen

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Ende Mai 2023 hatte Shelby Lynn den #MeToo-Skandal um Rammstein ins Rollen gebracht. Seitdem berichteten mehrere Frauen von Macht­missbrauch und sexualisierter Gewalt rund um die Konzerte der Band. Unter anderem soll eine Mitarbeiterin der Band junge Frauen gezielt aus dem Publikum für Sex mit dem Frontsänger Till Lindemann rekrutiert haben, ohne dass den jungen Frauen das klar war.

Einige Frauen behaupten, dass auch K.-o.-Tropfen und physische Gewalt im Spiel gewesen seien. Till Lindemann bestreitet die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft Vilnius hat das Ermittlungsverfahren im Fall Shelby Lynn inzwischen eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt weiter. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt für beide Seiten die Unschuldsvermutung.

Trotzdem wird weltweit zum Boykott von Rammstein-Konzerten aufgerufen. Verschiedene deutsche Rockbands, darunter Rammsteins Vorband Kraftklub, zeigen sich mit den Frauen solidarisch. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Zusammenarbeit mit der Band beendet, das Plattenlabel Universal setzt sie vorläufig aus.

Inzwischen gibt es neben Till Lindemann auch Anschuldigungen gegen den Rammstein-Keyboarder Christian «Flake» Lorenz. NDR und «Süddeutsche Zeitung» haben im Juli 2023 ihre Recherchen diesbezüglich veröffentlicht. Zwei weitere Frauen berichteten von sexuellen Handlungen durch Lorenz in den Jahren 1996 und 2002, die nicht einvernehmlich stattgefunden hatten. Laut ihrer Aussagen hätten sexuelle Übergriffe von Bandmitgliedern schon viel früher stattgefunden, als bisher angenommen.

Darüber hinaus soll das Rekrutierungssystem-Rammstein deutlich mehr Personen umfassen. Beide Frauen versicherten ihre Aussagen an Eides statt. Lorenz äusserte sich bereits zu den Vorwürfen und liess sie durch seine Anwälte zurückweisen. Die Rechtsvertreter Lindemanns halten eine Berichterstattung hierüber «rechtswidrig» und «unzulässig». Es gilt weiter die Unschuldsvermutung.

Aktuell werden die Frauen, die von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt rund um Backstage-Partys an Konzerten der Band berichten, von einem Grossteil der Rammstein-Fans und teilweise auch von Medienschaffenden angegriffen. Die Frauen hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen, so die Vorwürfe.

Sonja Eismann stellt hier die Gegenfrage: «Warum ist es für Männer völlig normal, auf eine Backstage-Party zu gehen und ihre körperliche Integrität gewahrt zu sehen, für Frauen aber nicht? Das ist eine unmögliche Argumentation, wo doch mittlerweile alle vom Konsensprinzip gehört haben sollten.»

Die Fälle verpuffen häufig

Die Kulturwissenschaftlerin geht davon aus, dass in der Rock- und Popmusik seit jeher weibliche Fans für männliche Stars rekrutiert worden sind – mal straffer, mal loser organisiert. «Ich kann mir vorstellen, dass da noch sehr viel ans Tageslicht kommt, was wir uns bis jetzt gar nicht vorstellen können.»

Doch selbst nach strafrechtlichen Verurteilungen – das zeigen vergangene Beispiele – gab es kaum nachhaltige Konsequenzen für mutmassliche oder nachgewiesene Täter. Schon in den 1970er-Jahren gab es sehr problematische Momente in der Groupie-Kultur. Musiker wie Iggy Pop und David Bowie brüsteten sich damit, mit minderjährigen Mädchen, sogenannten Babygroupies, Sex gehabt zu haben. Eine klare Straftat.

Auch die Rock ’n’ Roll-Szene ist kein rechtsfreier Raum.
Autor: Sonja Eismann Kulturwissenschaftlerin

In jüngerer Zeit gab es Missbrauchsvorwürfe oder Urteile gegen Musiker wie Michael Jackson, den Arcade-Fire-Sänger Win Butler, R’n’B-Sänger R. Kelly oder den Schock-Rocker Marilyn Manson. Doch die mediale Aufmerksamkeit sorgte in den meisten Fällen dafür, dass ihre Musik wieder mehr gehört wurde. Auch die Rammstein-Alben sind gerade in den Charts aufgestiegen, wie der Spiegel recherchiert hat . Von einem Karriere-Ende keine Spur.

Es braucht den Druck der Öffentlichkeit 

Sonja Eismann sieht eine Art Strategie darin, Debatten wie diese einfach auszusitzen: «Da ist die Hoffnung, dass irgendwann neue Dinge medial präsenter sind und mehr interessieren.»

Für die Kulturwissenschaftlerin bräuchte es ein neues Bewusstsein für die Problematik des Machtgefälles in der Pop- und Rockmusik und Strukturen zur Kontrolle. «Die Stars sind derzeit in gewisser Weise frei in ihrem Agieren. Sie werden hofiert, weil mit ihnen sehr viele Leute Geld verdienen.» Und wo sich niemand beschwert, da gibt es auch keine Anklage.

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Das werde sich nur ändern, wenn es viel Druck von der Öffentlichkeit gibt. «Wenn wir Leute zur Verantwortung ziehen und klarmachen, dass das kein rechtsfreier Raum ist. Auch dann nicht, wenn es diesen Rock ’n’ Roll-Mythos gibt.»

Radio SRF 1, Regionaljournal Freiburg Bern Wallis, 17.07.2023, 06:31 Uhr

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