Der italienische Star-Dirigent Claudio Abbado setzte Massstäbe, die noch heute für viele unübertroffen sind. Auf Aufnahmen lässt sich das überprüfen. Sie sind tiefgründig, ohne schwer zu sein. Die Musik schillert, ohne grell zu sein.
Abbados Anfänge liegen in Italien. In Mailand dirigiert er am Teatro alla Scala. Daneben organisiert er auch Konzerte in Fabriken und Spitälern – dirigiert für Arbeiterinnen und Arbeiter. Eine soziale Haltung, die im damals elitären Musikbetrieb neu ist. Heute haben sich «Konzerte für alle» etabliert.
1989 wird Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, im Jahr des Mauerfalls. Einem Mauerfall gleich kommen auch die Veränderungen durch Abbado im Orchester. Er bietet seinen Musikern bald das Du an. «Nennt mich Claudio», sagt er in einer seiner ersten Proben.
Ein Stimmverflechter
Das ist neu. Damit einher geht auch eine neue Verantwortung für die Orchestermusiker (und damals noch wenigen Musikerinnen). Sie sollen aufeinander hören, fordert Abbado immer wieder, selber Verantwortung übernehmen. So verweben sich die Stimmen eines Orchesters anders, feiner. Vielfältiger, als wenn nur gespielt wird, was der Dirigent vorzeigt.
Jeder habe seine Stimme in einem Orchester, sagt Abbado im Interview. Es komme einfach darauf an, diese Vielfalt zu koordinieren. Was er nicht mochte, war ein Orchester, das so «wie immer» spielte. Wenn es sich auf eine Tradition berief, die ihm nicht zeitgemäss erschien.
Den neuen Stil erprobt Abbado auch mit dem Gustav Mahler Jugendorchester. Die jungen Musiker liessen sich stärker auf Neues ein, sagt er: «Mit ihnen kann man fliegen.» Viele Ehemalige dieses Orchesters spielen heute in den grossen europäischen Orchestern. Und tragen so etwas von Abbados Geist weiter.
Ein wegweisender Stil
Auch unter Dirigenten hat sich Abbados kollegialer Stil weiter verbreitet. Daniel Harding, Abbados Assistent beim Gustav Mahler Jugendorchester, beruft sich auf ihn. Oder die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv.
Im Jahr 2000 wird bei Abbado eine Krebserkrankung festgestellt. Zwei Jahre darauf beendet er seine Zeit als Chefdirigent in Berlin, um fortan hauptsächlich mit Projektorchestern zu arbeiten. Orchestern wie dem Gustav Mahler Jugendorchester. Oder dem Lucerne Festival Orchestra.
Im Sommer 2003 dirigiert er am Lucerne Festival das erste Konzert dieses Orchesters, einer Gründung von ihm und Festivalintendant Michael Haefliger. Es sei ein Orchester «der Freunde» heisst es bald über das Lucerne Festival Orchestra. Freunde, die Abbado in seinem Musikerleben schätzen gelernt hatte. Sie begleiten Abbados letztes Lebensjahrzehnt.
Seine Konzerte in Luzern sind jeweils die Höhepunkte des Festivals. Mit dem Lucerne Festival Orchestra blüht Abbado noch einmal auf – Musik als Heilung. Abbado glaubte daran und mit ihm das Publikum. Dieser Glaube schweisst zusammen.
Einfach nur Claudio
«Bitte nennt mich Claudio» heisst ein Film von Beatrix Conrad über Abbado, den SRF aktuell zeigt. Dafür hat sie zahlreiche Musikerinnen und Musiker vor die Kamera geholt: Experten, Orchestermanagerinnen, seine Kinder. Historische Aufnahmen von Konzerten ergänzen die Zeitreise.
Beatrix Conrad ist auch an die Wohnorte Abbados gereist, auf Sardinien und ins Bündnerland. Im Fextal verbringt Abbado sein letztes Lebensjahrzehnt. Dort, in einer kleinen Kapelle, ist auch sein Grab.