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Jüdische und muslimische Seelsorger für die Schweizer Armee
Aus Perspektiven vom 14.05.2022. Bild: SRF / Sébastien Thibault
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Neue Diversität für die Armee Eine Schweizer Armeeseelsorge für alle – auch für Muslime

Die Schweizer Armee will eine Armee für alle sein – auch in der Seelsorge. Neben Katholiken und Reformierten gibt es neu auch jüdische, muslimische und freikirchliche Seelsorger und Seelsorgerinnen. Was bringt diese neue Diversität mit sich?

Muris Begovic, Imam und so etwas wie der muslimische «Mr. Seelsorge» der Schweiz, sitzt im Camouflage-Kampfanzug im Armeeausbildungszentrum Luzern und freut sich: «Oh, Mr. Seelsorge, das gefällt mir.»

Dass er, der Imam, nun der erste muslimische Armeeseelsorger der Schweiz ist, bedeutet Muris Begovic viel: «Es ist ein Zeichen der Anerkennung. Für mich persönlich, aber auch für die Musliminnen und Muslime der Schweiz.»

Die Seelsorger Daniele Scarabel, Muris Begovic und Jonathan Schoppig in Camouflage.
Legende: Daniele Scarabel mit freikirchlichem, Muris Begovic mit muslimischem und Jonathan Schoppig mit jüdischem Hintergrund sind Teil des diesjährigen technischen Lehrgangs der Armeeseelsorge. KEYSTONE/Urs Flueeler

Als muslimischer Armeeseelsorger könne er zeigen, dass es kein Widerspruch sei, Schweizer und Muslim zu sein. «Ich habe bereits viele positive Reaktionen erhalten von jungen Muslimen, die sagen: Wenn der Imam es schafft, in der Armee Muslim zu bleiben, dann kann ich das auch.»

Erst Imam, dann Seelsorger, dann RS

Dabei war der Weg zum Armeeseelsorger für Muris Begovic nicht vorgezeichnet. Die Rekrutenschule musste er nachholen, nachdem er sich als Armeeseelsorger beworben hatte und akzeptiert worden war. «Ein dreiwöchiger Intensivkurs, aber als 40-Jähriger sind auch drei Wochen genug», sagt er lachend.

Als Jugendlicher war die Schweizer Armee für ihn kein Thema: Muris Begovic war als Elfjähriger aus den Wirren des Bosnienkrieges in die Schweiz geflüchtet, eingebürgert wurde er mit 28.

Ein Kragenspiegel des Armeeseelsorgers.
Legende: Einfach unverkennbar: Einen Armeeseelsorger erkennt man an seinem Abzeichen, dem sogenannten Kragenspiegel. KEYSTONE/Urs Flueeler

Vor seiner Armeelaufbahn hatte er sich bereits im zivilen Leben auf die Seelsorge spezialisiert. Allerdings eher zufällig. «Ich bin reingerutscht», sagt der Imam und erzählt von seinem ersten, nicht gerade geglückten Einsatz als Seelsorger. «Ich erhielt einen Anruf aus dem Universitätsspital Zürich, dass ein Muslim aus meiner Gemeinde im Spital im Sterben liege.»

Muris Begovic war damals Imam in der Moschee in Zürcherischen Schlieren, hatte aber keine Ahnung, dass er als möglicher Ansprechpartner auf einer Liste des Spitals stand.

Kreidebleich beim ersten Einsatz

Er machte sich auf den Weg – mit vielen Fragen im Kopf: Wie begleite ich einen sterbenden Menschen? Was ist mit den Angehörigen? «Im Spital angekommen, war ich kreidebleich. Die Krankenschwestern nahmen mich beiseite, gaben mir Zucker und Wasser. Ich war erstmal keine grosse Hilfe», erinnert sich Muris Begovic mit einem Schmunzeln.

Nach diesem Erlebnis wusste er: Er braucht mehr Rüstzeug. Also bildete Begovic sich weiter, half beim Aufbau eines Teams muslimischer Seelsorger im Kanton Zürich und ist nun Geschäftsleiter des Vereins muslimische Seelsorge in Zürich. Bei der Seelsorge stehe der Mensch im Zentrum. «Ich kann Menschen in schwierigen Situationen helfen. Auch Menschen, die oft keine Bindung an eine Moschee oder einen Imam haben. Das gefällt mir.»

«Man muss Menschen mögen»

Den Menschen ins Zentrum stellen, darum geht es auch Jonathan Schoppig. Der Jurist ist einer von zwei neuen jüdischen Seelsorgern, engagiert sich in der israelitischen Cultusgemeinde Zürich und in der jüdischen Gemeinde Bern, und sitzt im Vorstand des jüdischen Dachverbandes SIG.

«Die Armee funktioniert nur, wenn sich der Einzelne dem Ganzen unterordnet: einheitliche Kleidung, einheitlicher Tagesablauf. Da kann der Blick fürs Individuum schnell verloren gehen», sagt Schoppig.

Die Seelsorger Daniele Scarabel, Muris Begovic und Jonathan Schoppig in Camouflage.
Legende: Für Jonathan Schoppig (rechts) müssen gute Seelsorgende die Bedürfnisse der Leidenden ernst nehmen – unabhängig von der Religionszugehörigkeit. KEYSTONE/Urs Flueeler

Die Seelsorge könne hier Gegensteuer geben. Das habe er selbst erlebt: «Ich war auch beim Seelsorger, nichts Weltbewegendes, aber das Gespräch hat mir geholfen.» Dass der Seelsorger damals kein Jude war, spielte für Jonathan Schoppig keine Rolle. «Solange der Seelsorger sein Gegenüber ernst nimmt, ist die Religionszugehörigkeit egal.» Ein Seelsorger müsse primär Menschen mögen – und bereit sein, sich auf jeden Menschen einzulassen.

Konfession spielt keine Rolle

«Vielfalt in der Einheit» ist einer der Leitsprüche der Schweizer Armee. Und der Grund, weshalb die Armee neu neben reformierten, römisch-katholischen und christkatholischen auch jüdische, muslimische und vor allem freikirchliche Armeeseelsorger ausbildet.

Die Schweizer Armee beim Training.
Legende: Die jüdische und die islamische Seelsorge wird fortan in die Aus- und Weiterbildungen der Armee eingebunden. VBSDDPS, ZEM, Nique Nager

Sie alle werden sich nicht primär um die Soldatinnen und Soldaten aus ihrer Religionsgemeinschaft kümmern, sondern um Armeeangehörige aus allen Religionen und Konfessionen – und auch um die Atheistinnen und Agnostiker.

Die Seelsorger in der Armee sind einer Einheit zugeteilt, etwa einem Battalion, und stehen dort allen zur Verfügung: von der Rekrutin bis zum Kommandanten. Das ist im internationalen Vergleich aussergewöhnlich und hat Tradition.

Feldprediger für alle

Bereits bei der Gründung der Armeeseelsorge vor 140 Jahren waren die damaligen Feldprediger für alle Soldaten zuständig – egal ob reformiert oder römisch-katholisch. Keine Selbstverständlichkeit, hatten sich doch Reformierte und Katholiken noch wenige Jahrzehnte zuvor im Sonderbundskrieg auf dem Schlachtfeld bekämpft.

«Dieser integrative Aspekt der Armeeseelsorge liegt in der Schweizer DNA: Dass wir nicht polarisieren, sondern integrieren, dass wir nicht spalten, sondern vereinen», sagt Samuel Schmid, der Chef der Armeeseelsorge.

Chef der Armeeseelsorge Samuel Schmidt bei einer Pressekonferenz.
Legende: Samuel Schmid, Hauptmann und Chef Armeeseelsorge, verkündet bei einer Medienkonferenz die neue, interreligiöse Ausrichtung der Armeeseelsorge. KEYSTONE/Urs Flueeler

Wie garantiert die Armee Toleranz und Offenheit?

Knapp 140 Jahre lang war die Seelsorge in der Armee das Privileg der Landeskirchen. Die Öffnung, vor allem jene für freikirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger, hat auch für Kritik gesorgt. Hinter vorgehaltener Hand wurden Zweifel geäussert, ob die freikirchlichen Seelsorger die Qualitätsstandards erfüllen würden.

Wie garantiert die Armee, dass ihre Seelsorgerinnen und Seelsorger auch die Werte der Schweizer Armee mittragen? Dafür gebe es verbindliche Regeln, sagt Samuel Schmid, Chef der Armeeseelsorge. «Die Armee gibt die Werte vor: Gerechtigkeit, friedliches Zusammenleben, Respekt, Toleranz, Diversität.»

Feldprediger hält vor einer Schweiz-Flagge eine Predigt.
Legende: Pfarrer Ernst Frick beschwört am 1. August im Kriegsjahr 1940 auf dem Tonhalleplatz (ab 1947: Sechseläutenplatz) die nationale Selbstbehauptung – auch Feldpredigt genannt. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str

Um diese zu garantieren, müssen alle Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Seelsorger stellen, einen Vertrag unterschreiben und sich auf die Werte verpflichten. Samuel Schmid verweist zudem auf das Auswahlverfahren. «Wir haben ein strenges, dreistufiges Assessment, das die Kandidatinnen und Kandidaten auf Herz und Niere prüft.»

Armeeseelsorge bleibt gefragt – trotz Säkularisierung

Was aber, wenn zum Beispiel ein homosexueller Soldat Bedenken hat, sich einem freikirchlichen Seelsorger anzuvertrauen? «Wenn sich jemand nicht wohlfühlt, ist es die Aufgabe des Seelsorgers, dies zu erkennen und den Soldaten an einen anderen Seelsorger zu vermitteln», erklärt Samuel Schmid. Die bisherigen Erfahrungen mit freikirchlichen Seelsorgern hätten aber gezeigt, dass dies kaum vorkomme.

Anders als ihre jüdischen und muslimischen Kollegen sind die Seelsorger aus den Freikirchen bereits seit zwei Jahren im Einsatz. Eine Zeit, in der die Armeeseelsorge sehr gefragt war – wegen der Corona-Pandemie. «Wir hatten über 10'000 Einsätze», sagt Schmid. Gespräche mit Soldaten, die während der Pandemie in Spitälern oder Altersheimen aushalfen oder denen Ausgang und Wochenenden zu Hause gestrichen wurden.

Gerade die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig die Armeeseelsorge sei – trotz fortschreitender Säkularisierung. «Die Menschen sind in der Armee in einer besonderen Situation. Sie haben weniger Kontakt zu Freunden und Familie, sind in feste Strukturen und einer neuen Gemeinschaft eingebunden», erklärt Samuel Schmid. Deshalb sei der Gesprächsbedarf gross – besonders in Ausnahmesituationen wie der Pandemie oder bei einem Einsatz im Ausland.

Die Sorgen aus dem Alltag abladen

Die Fragen bringen die Armeeangehörigen oft aus dem Alltag mit: «Probleme mit der Freundin, Sorge um den Arbeitsplatz oder um gesundheitlich angeschlagene Angehörige.» Dazu kämen Schwierigkeiten mit dem Armeebetrieb: das Zusammenleben auf engem Raum, wenig persönliche Freiheiten.

Die Seelsorger seien präsent, hätten ein offenes Ohr, so Schmid. Und die Seelsorge hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Beratungsangeboten wie dem psychologisch-pädagogischen Dienst: Der Zugang ist niederschwelliger. Es braucht keinen Termin, keinen Dispens vom Dienst. Ein Anruf genügt.

Die neue Vielfalt ist unglaublich bereichernd.

Die Armeeseelsorge ist gefragt. Genügend Seelsorger zu finden, war aber in der Vergangenheit nicht einfach: Pfarrermangel – auch in der Armee. Ist die Öffnung für freikirchliche, jüdische und muslimische Seelsorger einfach ein Mittel gegen diesen Personalmangel?

«Dass wir mehr Kandidaten finden, ist ein positiver Nebeneffekt, aber nicht der Grund für die Öffnung», betont der Chef der Armeeseelsorge. Zumal die Anzahl Seelsorgerinnen und Seelsorger mit der Armeerevision ’23 von 170 auf 240 erhöht wird.

Neue Diversität sei «ein Segen»

Ein Drittel der Armeeseelsorger im aktuellen Ausbildungslehrgang hat einen freikirchlichen Hintergrund. Dazu die zwei jüdischen und der muslimische Seelsorger. Eine Vielfalt, die unter den angehenden Seelsorgern gut ankommt. Das zeigt ein Besuch im Unterricht. «Die Vielfalt ist unglaublich bereichernd», sind sich alle einig.

In den Pausen, beim gemeinsamen Abend- und Mittagessen tauschen sich die Seelsorger über die Eigenheiten und Unterschiede ihrer Religionen aus. «Ich hatte schon verschiedenste Aha-Erlebnisse», sagt Daniel Baltisberger, Pastor in der Freikirche Chrischona in Winterthur.

Mit Muris Begovic, Jonathan Schoppig und seinem jüdischen Kollegen Zsolt Balkanyi verschiedene Ansprechpartner für Fragen zu haben, sei sehr wertvoll. «Ein Segen», sagt einer der angehenden christlichen Seelsorger.

Jonathan Schoppig und Muris Begovic freuen sich auf ihre neue Aufgabe. «Begegnungen mit Rekruten, mit jungen Erwachsenen, machen mein Leben spannender und vielfältiger», ist der jüdische Seelsorger überzeugt.

Auch Muris Begovic ist gespannt auf die Begegnungen mit Menschen, die er bei ihrem Militärdienst begleiten kann – in guten und in schwierigen Zeiten.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 15.05.2022, 8:30 Uhr

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