«Ich bin erschrocken über die Dummheit des Badener Stadtammanns»: So reagierte Politikberater Mark Balsiger am Sonntag auf den Artikel in der «Schweiz am Sonntag» über die «Nackt-Selfies» von Geri Müller. «Ich fragte mich aber auch, weshalb Chefredaktor Patrik Müller dem Politiker Müller mit dieser Geschichte quasi den Kopf abschlug. Das war eine Exekution.»
Das war eine Exekution.
Mark Balsiger findet die Aufregung über die Chat-Affäre von Geri Müller masslos übertrieben. Auch Spitzenpolitiker hätten etwas Privatsphäre verdient, findet der Berater. «Sehr vieles ist Prüderie. Wenn man bei Spitzenleuten auch in der Wirtschaft die Computer untersuchen würde, dann würde man wohl bei jedem Dritten vergleichbare Fälle finden.»
«Fall Büttiker» ohne politische Folgen
Die Schweiz sei in den letzten Jahren moralisierender geworden, härter, so die Beobachtung von Balsiger. 1999 zum Beispiel wurde der damalige Solothurner Ständerat Rolf Büttiker als Prostituierten-Besucher überführt. «Büttiker gab das sofort zu. Die Geschichte machte kurz mediale Furore, die Leute lächelten, anschliessend wurde Büttiker wieder an seinen politischen Leistungen gemessen», so Balsiger, der damals noch als Journalist der DRS-Regionalredaktion über den «Fall Büttiker» berichtet hatte.
Tatsächlich wurde Rolf Büttiker nach dieser Affäre noch drei Mal wiedergewählt. Balsiger zieht auch Filippo Lombardi als Vergleich hinzu: Der Tessiner Spitzenpolitiker wurde mehrmals wegen Fahren im angetrunkenen Zustand verurteilt. «Er hatte Menschenleben gefährdet, das kann man Geri Müller nun wirklich nicht vorwerfen.»
Kritik an den Medien
Einen Grund für diese «Skandalisierung» und diese «Schlüsselloch-Geschichte» sieht Mark Balsiger im Wandel der Medienlandschaft. «Die Reichweite der Online-Medien ist gestiegen. Es gibt einen entfesselten Kampf unter den einzelnen Anbietern. Es geht auf Tempo, es geht um Zuspitzung, um Skandalisierung.»
Die Folge davon sei, dass Politiker heute viel vorsichtiger sein müssten. «Spitzenleute in unserem Land sind sehr zaghaft geworden, weil sie ständig Angst haben vor einem möglichen medialen Orkan.»
Ich hätte mich geweigert, diese Geschichte zu drucken.
Balsiger findet dezidiert, dass die «Schweiz am Sonntag» die Story um Geri Müller mit der vorhandenen Faktenlage nicht hätte veröffentlichen dürfen. Schliesslich habe sich die Vermutung um einen möglichen Amtsmissbrauch sehr schnell in Luft aufgelöst, wesentliche Quellen hätten gefehlt.
Allerdings kritisiert Balsiger auch das Verhalten von Geri Müller. «Die Entschuldigung am Dienstag war zwar glaubwürdig, aber sie kam viel zu spät. Müller hätte bereits am Sonntag an die Öffentlichkeit gehen müssen.»
Geri Müller: Stadtammann ja, Nationalrat nein?
«Ich schäme mich»
Trotzdem glaubt Mark Balsiger, dass Geri Müller noch eine politische Zukunft haben könnte. «Entscheidend ist, wie der innerste Kern der Stadtverwaltung von Baden reagiert. Wenn diese Leute ihn öffentlich unterstützen, seine Arbeit als Stadtammann positiv würdigen, dann wird er getragen und könnte im Amt bleiben.» Für das Nationalratsamt allerdings sieht Balsiger schwarz.
«Das Risiko ist zu gross. Erstens könnten sich die Grünen bei der Nomination in diesem Jahr schwer tun, zweitens könnte er nicht mehr gewählt werden. Das wäre ein grober Dämpfer für seine Karriere, und das würde auch auf sein städtisches Amt zurück fallen», glaubt Politikberater Balsiger.
Im schlimmsten Fall ist diese Schlüsselloch-Geschichte ein Dammbruch.
Die Affäre rund um Geri Müller und seine Nacktfotos könnte laut Mark Balsiger auch Bundesbern treffen. «Im schlimmsten Fall ist diese Geschichte eine Art Dammbruch, dass künftig alles Private an die Öffentlichkeit dringt», so die Befürchtung.
Seit Jahren gelte in Bundesbern eine «Knigge» unter Politikern und Journalisten, dass man nicht über alles schreibe, was man wisse. «Wenn das nun ändert, dann geht ein wesentlicher Teil unserer Kultur kaputt.»
(Regionaljournal Aargau Solothurn, 17:30 Uhr)